Wie ist diese Zahl einzuordnen? Von Februar bis Dezember 2023 wurde 15.774 Bürgergeld-Beziehern der Regelsatz gekürzt. Diese Menschen weigerten sich, eine Arbeit anzunehmen oder fortzuführen oder eine Ausbildung bzw. geförderte Maßnahme zu beginnen.
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Spricht das nun dafür, dass es nicht mal 16.000 Job-Verweigerer in Deutschland gibt und die Zahl damit also verhältnismäßig klein wäre? Die Debatte um Bürgergeld-Sanktionen bestimmt Talkshows, Schlagzeilen und Bundestagssitzungen. All das nur wegen 16.000 Menschen – so viele, wie in einer gewöhnlichen Kleinstadt leben?
Bei Sanktionen zu lasch? Das sagen drei Bürgergeld-Experten
Oder ist diese Zahl an Sanktionen eher so zu deuten, dass die Ämter zu zaghaft sind bei den Sanktionen oder mehr Instrumente bräuchten? In letztere Richtung geht aktuell die politische Debatte, angeführt von Ampel-Minister Christian Lindner und CDU-Chef Friedrich Merz.
Unsere Redaktion hat bei drei Bürgergeld-Experten nachgefragt, wie sie die offizielle Statistik über die Sanktionen der Bundesagentur für Arbeit einordnen.
„Trendwende zu deutlich defensiverer Anwendung“
Professor Dr. Felix Wilke von der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena erkennt eine „seit der Corona-Krise einsetzende Trendwende hin zu einer deutlich defensiveren Anwendung“ der Sanktionen durch die Jobcenter-Mitarbeiter. Er führt aus: „Während noch 2019 über 3 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, über 100.000 Personen, von Sanktionen betroffen waren, sind es seitdem weniger als 1 Prozent.“ Diesen Trend beurteilt Wilke als „positives Resultat der Bürgergeldreform“.
Sozialstaats-Experte Professor Dr. Michael Opielka deutet die Zahl ähnlich, nämlich „eher als die Spitze eines Eisbergs“, da dieser Sanktionstyp derzeit noch sehr zurückhaltend eingesetzt werde.
Für begrenzt aussagekräftig hält Professor Dr. Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die frisch veröffentlichte Zahl. Letztlich hätten Sanktionen schließlich die Funktion, schon im Vorfeld Druck auszuüben. „Deshalb greift es zu kurz zu beurteilen, wie viele dann tatsächlich betroffen waren“, so der Wirtschaftswissenschaftler.
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Ähnlich sieht das Wilke: „Über die Arbeitsmotivation der Betroffenen sagt die Entwicklung der Sanktionshäufigkeit am Ende sicher nur wenig aus.“ Hier würden andere Faktoren, wie die Situation am Arbeitsmarkt, eine größere Rolle spielen.
„Ganz ohne geht es nicht“
Grundsätzlich sei es richtig, dass Sanktionen dazu führen, dass mehr Arbeit aufgenommen wird, so Weber. „Ganz ohne geht es nicht“, zeigt er sich überzeugt. Allein schon das Vorhandensein der Sanktionen führe dazu, dass Menschen selbst aktiver und eigenständiger auf die Jobsuche gehen. Doch es gebe immer zwei Seiten der Medaille und es sei wichtig, ein „vernünftiges Maß“ auszuloten.
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Wilke beurteilt die momentane Debatte um Sanktionen kritisch. Die Bedeutung werde überbewertet. Zwar würde die Anwendung und Androhung die Beschäftigung leicht erhöhen, doch hätten Forschungen gezeigt, dass dieser Effekt „eher kurzfristig“ sei und erhebliche Nachteile mit sich bringe. „Die Qualität der aufgenommenen Beschäftigung ist schlechter, der Gesundheitszustand der Betroffenen verschlechtert sich und viele Leute verschwinden aus dem Sicherungssystem“, zählt Wilke auf. Es könnten „schnell biografische Krisen entstehen“, die am Ende einer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt entgegenstehen. Kosten und Aufwand der Ämter würden in keinem Verhältnis zum gesellschaftlichen Nutzen stehen. Er rät daher „zu etwas mehr Gelassenheit“ bei der Frage.
„Negative Sanktionen wirken weit weniger als positive“
Opielka betont ebenfalls: „Negative Sanktionen wirken weit weniger als positive Sanktionen. Zudem ist die Grenze zwischen fehlender Arbeitsbereitschaft und fehlender Arbeitsfähigkeit – vor allem bedingt durch Misserfolge oder Depressionen – fließend.“
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Auch Weber betont, dass ihm die aktuelle Debatte überzogen erscheint, wenn es nur noch um „Totalsanktionen“ und vermeintliche „Totalverweigerer“ gehe. Die Realität in der Arbeitslosigkeit sei selten schwarz-weiß, sondern es träfen oft verschiedene Hemmnisse aufeinander. Er bedauert eine Debatte, in der es derzeit einen „Wettlauf um die 100-Prozent-Sanktionen“ gibt. Weber schlägt stattdessen vor, länger zu sanktionieren, statt rigoros zu kürzen. Dafür dann aber die Sanktionen wieder umgehend aufzuheben, wenn eine Kooperation des Arbeitslosen mit dem Jobcenter wieder gegeben ist.