Vor knapp einem Jahr, im Oktober 2022, standen Lidl sowie Mast- und Zuchtbetriebe, die den Discounter-Konzern mit Geflügelfleisch beliefern, massiv in der Kritik. Im Mai 2023 sah sich Lidl weiteren Vorwürfen ausgesetzt: Bei Produkten der Eigenmarke „Metzgerfrisch“ seien in 71 Prozent der Proben Fäkal-Keime nachgewiesen worden, hieß es damals (>>>hier mehr). In beiden Fällen hatte die Berliner „Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt“ den Stein ins Rollen gebracht. Diese legt jetzt noch einmal nach.
Nach den ersten Berichten der Stiftung über mutmaßliche Tierquälerei für Lidl-Fleisch vor rund einem Jahr veröffentlicht die Organisation jetzt erneut schockierendes Foto- und Video-Material. Die Aufnahmen, die dieser Redaktion vorliegen, sind nichts für schwache Nerven. Nach Angaben der Stiftung dokumentieren sie nicht nur die bedrückenden Lebensumstände der Küken und Hühner in den Stallgebäuden, sondern auch den brutalen Umgang von Mitarbeitern mit den Tieren in zwei für Lidl tätigen Mastbetrieben. Diese sollen sich in der Nähe von Münster (NRW) und im Landkreis Cloppenburg (Niedersachsen) befinden. Daraus resultierend hat die Tierschutz-Organisation Equalia, die mit der Albert Schweitzer Stiftung kooperiert, am Dienstag (26. September) Strafanzeige bei den jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften in Münster und Oldenburg erstattet.
Lidl: Video zeigt missgebildete Hühner
Das Video- und Fotomaterial – die jüngsten Aufnahmen sollen aus August 2023 stammen – ist zum Teil derart schockierend, dass wir in diesem Artikel nur einzelne, vergleichsweise „harmlose“ Fotos zeigen. Zu sehen sind in dem vollständigen Material unter anderem folgende Bilder:
- Tiere mit Missbildungen und Infektionen
- ein Stall, in dem man den Boden vor lauter Hühnern nicht sieht, ohne natürliches Licht und Beschäftigungsmöglichkeiten
- Hühner, die in ihrem eigenen Dreck liegen, an den verwesenden Körpern ihrer Artgenossen picken
- Küken, die von Mitarbeitern kistenweise aus größerer Höhe auf den Boden geschüttet werden
- ausgewachsene Hühner, die von Mitarbeitern auf grobe Weise in Bündeln gepackt und in Kisten verfrachtet werden.
Diese Redaktion hat sich intensiv mit dem zur Verfügung gestellten Material und den Erläuterungen befasst und erkennt Hinweise auf deren Echtheit, kann die Angaben der Albert Schweitzer Stiftung jedoch nicht abschließend und vollständig verifizieren. Wir haben daher Lidl in einer Anfrage detailliert über die Schilderungen und Eindrücke in Kenntnis gesetzt und um Stellungnahme gebeten. Das Unternehmen äußerte sich am Mittwochabend (27. September), allerdings nicht konkret zu den Video- und Fotoaufnahmen oder zu den Vorwürfen.
Man gehe dem umgehend nach, hieß es in dem Antwortschreiben. Und weiter: „Lidl setzt sich seit Jahren für die Weiterentwicklung von Tierwohlstandards ein und wird dies auch weiterhin tun. Wir sprechen uns mit aller Deutlichkeit gegen Tierquälerei aus und nehmen jegliche Vorwürfe sehr ernst. Auch in der Vergangenheit haben wir bei solchen Hinweisen sofort reagiert und Prüfungen durch externe Sachverständige veranlasst sowie intensive Gespräche mit unseren Lieferanten geführt.“
Lidl soll sich Europäischer Masthuhn-Initiative anschließen
Wenn es denn solche Prüfungen und Gespräche gegeben hat, so haben diese aus Sicht der Albert Schweitzer Stiftung keine nennenswerte positive Wirkung erzielt. In einer Pressemitteilung heißt es, die aktuellen Aufnahmen stammen von demselben Lieferanten aus Niedersachsen, der bereits 2022 wegen schwerer Tierquälerei in der Kritik gestanden habe. Laut Recherchen der Albert Schweitzer Stiftung produziere der Betrieb die Lidl-Eigenmarken „Metzgerfrisch“ und „Grillmeister“.
Mahi Klosterhalfen, Präsident der Albert Schweitzer Stiftung, sagt: „Seit einem Jahr decken Tierschutzorganisationen einen Skandal nach dem nächsten bei Lidl-Lieferanten auf, überall in Europa.“ Lidl verstecke sich jedoch „hinter nichtssagenden Tierwohl-Labeln.“ Klosterhalfen: „Die Qualzucht ist das größte Problem in der Hühnermast, aber wird von Lidl verdrängt. Mit der Europäischen Masthuhn-Initiative könnte Lidl den Hühnern einen großen Teil ihres Leids ersparen. Dazu ist man dort jedoch nicht bereit.“
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Lidl erklärt dazu auf Anfrage dieser Redaktion, dass die Zulieferer für das Frischgeflügel-Sortiment, die der „Initiative Tierwohl“ angehören, mindestens der Haltungsform 2 entsprechen. Stufe 2 bedeutet reine Stallhaltung.
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Die Albert Schweitzer Stiftung hingegen fordert, dass Lidl sich anstelle der „Initiative Tierwohl“ der Europäischen Masthuhn-Initiative anschließt. Diese schreibe gesündere, weniger schnell wachsende Hühner-Rassen vor sowie mehr Platz, Tageslicht, Beschäftigungsmöglichkeiten und eine möglichst stressfreie Schlachtung. Wie Mahi Klosterhalfen hervorhebt, passen Aldi und andere Lebensmittelketten ihre Hühnerfleisch-Standards bereits an die strengeren Kriterien der Europäischen Masthuhn-Initiative an.
Lidl hingegen teilt mit, dass man 2021 das Ziel erreicht habe, den Anteil an Frischgeflügel in den Haltungsform-Stufen 3 (Außenklima) und 4 (Premium) auf 20 Prozent auszubauen. Die vollständige Umstellung auf die Haltungsstufen 3 und 4 plane man „langfristig“. In diesem Zusammenhang betont Lidl: „Wir sehen ausdrücklich auch die Notwendigkeit einer Transformation der Nutztierhaltung und werden daher weiter intensiv daran arbeiten, unser Sortiment in Zusammenarbeit mit unseren Partnern und Lieferanten entlang der gesamten Lieferkette und mit Blick auf die nationalen Kundenbedürfnisse tierwohlgerechter zu gestalten.“
Nicht nur in Deutschland werden aktuell neue Vorwürfe gegen Lidl erhoben. Die Albert Schweitzer Stiftung agiert nach eigenen Angaben als Teil eines Bündnisses von mehr als 15 Organisationen in mehreren europäischen Staaten.