Die Zahl minderjähriger Flüchtlinge, die ohne Familie herkommen, nimmt auch in Essen zu. Die Stadt richtet nun eine Clearingstelle mit 60 Plätzen ein.
Essen.
Sie brauchen nicht bloß ein Bett, sondern dazu eine Betreuung: Junge Flüchtlinge, die ohne Eltern in Essen landen. Die Stadt stellt das mitunter vor aberwitzige Herausforderungen: „An einem Freitag Mitte September hatten wir keinen freien Platz mehr“, erzählt Sozialdezernent Peter Renzel. In einer Spätschicht und mit kreativen Ansätzen löste man das Problem.
„Ich hätte so nicht ins Wochenende gehen können“, sagt Annette Berg schlicht. Also telefonierte die Leiterin des Jugendamtes nicht nur mit Heimen und Wohlfahrtsverbänden, sondern auch mit Reinhard Wiesemann, der Hilfe angeboten hatte. Tatsächlich stellte der Unternehmer spontan in seinem Generationen-Kultur-Haus in der Nordcity vier Plätze bereit. Er versprach auch, sich an dem Wochenende um die jungen Menschen zu kümmern. „Das war eine tolle, hilfreiche Begleitung“, lobt Berg.
Büro zur vorübergehenden Notaufnahme erklärt
Ein abendlicher Kraftakt, um eine Handvoll Schlafstellen zu organisieren, soll natürlich nicht zur Regel werden. Lange Zeit kamen nur wenige „unbegleitete minderjährige Asylbewerber“ nach Essen; Städte wie Dortmund und Köln waren die zentralen Anlaufstellen. Mit den steigenden Flüchtlingszahlen nimmt nun auch in Essen die Zahl ganz junger Alleinreisender zu. Schlepper setzen sie am Hauptbahnhof, an Polizeiwachen oder gleich im Jugendamt ab. Kürzlich habe ein Junge aus Afghanistan in der Abteilung für Vormundschaften an die Tür geklopft: dehydriert, hungrig, völlig erschöpft. Und so machten die Kollegen ein Büro zur vorübergehenden Notaufnahme.
Inzwischen leben in Essen 70 jugendliche Flüchtlinge in Heimen und Wohngruppen. Viele haben eine traumatische Geschichte und eine belastende Flucht hinter sich; brauchen viel Fürsorge oder Therapien. Um genau zu ermitteln, welche Hilfe ein junger Flüchtling benötigt, richtet die Stadt jetzt eine „Clearingstelle“ ein. Hierhin kommen die Jugendlichen, nachdem ihr Alter geschätzt wurde und das Jugendamt sie in Obhut genommen hat. Binnen drei Monaten soll – so sieht es der Gesetzgeber vor – ihre Situation geklärt werden; daher der Name Clearingstelle. Es handelt sich um das Kolping-Berufsbildungswerk in Kray, wo sie während der Klärungsphase leben.
Traumatische Lebensgeschichten
Ab November sollen hier bis zu 60 Betten Platz finden; Kantine und Schulungsräume sind schon vorhanden. Betreut werden die Jugendlichen dort vom Diakoniewerk und vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF): Diese helfen, Sprachunterricht, Schulbesuch oder Ausbildung auf die Beine zu stellen. Sie finden heraus, ob es in Deutschland Verwandte gibt, die einspringen können. Sie schauen, wer reif für eine eigene Wohnung ist, wer besser in einem Heim oder einer WG aufgehoben wäre und wem Familienanschluss gut täte.
„Es gibt einige Leute, die gern Flüchtlingskinder aufnehmen wollen“, sagt Peter Renzel. „Nur müssen wir manchem klarmachen, dass es sich nicht um Babys oder Kleinkinder handelt und mehr als guter Wille gebraucht wird.“ Andererseits zeige sich im Heim-Alltag auch, wie motiviert und bildungshungrig die meisten jungen Flüchtlinge sind. Wer sich darauf einlasse, dass sein neues Familienmitglied aus einer anderen Kultur komme, die Sprache nicht beherrsche und seelische Narben mitbringe, sei als Gastfamilie willkommen.
Rein formal gelten die Voraussetzungen wie bei Pflegefamilien, und so bekommen die Jugendlichen auch einen Vormund. „Bis sie 18 sind – oder gar bis zum 21. Lebensjahr, wenn das in ihrem Herkunftsland so geregelt ist“, erklärt Annette Berg. Weil ein amtlicher Vormund maximal 50 Fälle betreuen darf, übernimmt der SkF „Vereinsvormundschaften“; außerdem werden ehrenamtliche Vormünder gesucht. „Das ist ein sehr verbindliches Engagement und mehr als eine Patenschaft“, betont Renzel.
Betreuung auch in den Asylheimen
Für die jungen Flüchtlinge, die allein in ein fremdes Land kommen, trägt das Jugendamt naturgemäß eine besondere Verantwortung. Kümmern muss es sich aber auch um die Kinder in den Asylheimen: Für sie gibt es Sprach- und Spielgruppen in den Unterkünften; gleichzeitig wird der Kita-Ausbau verstärkt. Wie sagt Annette Berg: „Nirgends gelingen Integration und Spracherwerb so leicht wie beim gemeinsamen Kita-Besuch.“