Im Essener Norden gehen die Wogen schnell hoch, sobald jemand aus dem Süden harte Kritik anbringt. Das ist unnötig…
Essen.
Es war vielleicht die Lust an der Provokation und womöglich gar nicht so furchtbar ernst gemeint. Vielleicht entsprang es aber auch tiefer Überzeugung. Jedenfalls hat eine Kettwiger Bürgerin, von der WAZ jüngst im Rahmen der „Frage des Tages“ nach ihrer Meinung zum Essener Norden befragt, für einigen Wirbel gesorgt. Nein, den Norden der Stadt kenne sie nicht und sie wolle ihn auch gar nicht kennenlernen, meinte sie frei heraus. Viel Schönes, so der unausgesprochene Unterton, gebe es da ja wohl sowieso nicht.
Nun darf jeder eine Meinung haben, auch wenn sie krass ist, mit den Fakten auf Kriegsfuß lebt oder andere verletzt. Die vielen beleidigten bis wütenden Reaktionen, die in der Redaktion eintrafen, zeigen aber eindrucksvoll: Wenn es um die Nord-Süd-Frage geht, dann ist Essen ein einziges Fettnäpfchen, und noch immer kann man kaum einen tieferen Stich landen, als diese stets schlummernden Animositäten zu wecken. Wenn „die im Süden“ mitleidig bis herablassend auf die vermeintlich so Benachteiligten im Norden blicken, dann sind Emotionen garantiert.
Klar, Rivalitäten zwischen Stadtvierteln kennt jede Stadt. Sie sind oft witzig, manchmal auch ernster. So bitter und humorfrei wie in Essen geht es anderswo allerdings selten zu. Das liegt wohl daran, dass wir Essener uns über die Jahrzehnte haben einreden lassen, die A 40 trenne quasi die gesamte Stadt sauber in reich und arm, schön und hässlich, die Autobahn markiere eine schier undurchdringliche soziale Grenze. Vor allem überregionale Medien lieben solche Klischees, um plakative Thesen über Essen und das Ruhrgebiet zu untermauern, und vor Ort gibt’s manchen, der sie gerne nachbetet.
Wer sich ein bisschen besser auskennt, weiß: Klischees, auch die über Essen, sind zwar selten völlig falsch, meist aber übertrieben. Es gibt Armut in Überruhr und Hässliches in Bredeney, es gibt andererseits Villen in Bedingrade und schöne Ecken in Altenessen. Sicher, während die Schönheit etwa des Baldeneysees von selbst ins Auge springt, muss man im Norden häufig etwas genauer hinsehen, einen anderen Blickwinkel einnehmen, manchmal auch die selektive Wahrnehmung üben. Aber wo muss man das nicht? Paradiese gibt’s nur in der Reklame.
Ich habe an einem Herbsttag 2012 die Stadt von der Nordspitze bis weit in den Süden zu Fuß durchwandert und dabei nicht zum ersten Mal festgestellt: Es gibt in Essen kaum etwas Beglückenderes, als einen Morgen am Kanal und einen Blick von der Spitze der Schurenbachhalde. Man kann von Karnap bis kurz vor der Innenstadt kilometerlang im Grünen laufen und muss allenfalls mal kleine Nebenstraßen kreuzen. Kein Wunder, dass der Nord-Mensch, der all das genau weiß, nach meiner Wahrnehmung öfter als früher eine abgeklärte, selbstbewusste Gelassenheit kultiviert. Motto: Wenn einige im Süden einfach nicht begreifen wollen wie lebenswert der Norden ist, dann lass sie doch.
Genau das ist der richtige Weg: souverän sein und nicht über jedes Stöckchen springen, das man hingehalten bekommt. Der Norden hat es gar nicht nötig, in eine Opferhaltung zu fallen. Sicher, Gegensätze treffen hier manchmal hart aufeinander, und es gibt Probleme, die man nicht kleinreden darf – Lobhudelei ist ebenso falsch wie undifferenziertes Genöle. All das kann aber spannend sein. Wahrnehmungen ändern sich und Reisen bildet – auch in der eigenen Stadt. Die WAZ wird demnächst mit einer Serie beginnen, in der es um die 100 interessantesten Orte in Essen geht. Mancher wird staunen, wie viele davon im Norden liegen.