Essen.
Im Raum 58 gibt es zwei Regeln: Keine Drogen. Und keine Gewalt. Die Einrichtung nahe der Essener Uni nimmt jeden Abend Jugendlichen auf, die keine Bleibe für die Nacht haben. Acht Betten. Immer ab 21 Uhr, 365 Tage im Jahr. Seit 2001, erklärt Leiterin Manuela Grötschel. Anfang des Jahres der Umzug an die Niederstraße 12-16.
Der Küchen- und Essbereich ist hell, der große Tisch verwaist. Die Jugendlichen sind bereits wieder auf Achse. Die Aufnahmestelle gibt den Jugendlichen ein Dach über den Kopf. Für die Nacht. Morgens werden sie geweckt, dann endet das Programm. Raum 58 will ihnen nur Basics geben. Eigentlich.
„Auf Platte zu gehen, hat sich keiner der Jugendlichen ausgesucht“, erklärt Grötschel über ihre Jugendlichen. Die Kids genießen nicht den Ruf der Freiheit, sie haben Bindungsangst. Die geht soweit, dass auch Jugendschutzbehörden bei ihnen nicht mehr weiter kommen. Die Jugendlichen wollen die Hilfe nicht, irgendwann türmen sie. Aus der Schule, aus dem Heim, aus dem Elternhaus. Grötschel: „Die Kids entscheiden sich nur, was sie nicht machen wollen. Und irgendwann gibt es keine andere Lösung mehr als die Straße.“
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Da ist die 16 Jährige mit einem schlimmen Drogenproblem, der junge Gewalttäter, der Schulschwänzer, die Schwangere, das Heimkind. „Die Jugendlichen kommen aus Familien die gravierende Probleme habe, sie sind hochgradig beziehungsgestört. haben. Wenn sie abends vor der Tür von Raum 58 stehen, sind sie nur eins: Anonym.
Die ersten vier Nächte müssen sie sich nicht ausweisen, keinen Namen nennen, können einfach zur Ruhe kommen. Grötschel: „Unsere Einrichtung ist unverbindlich, offener. Dadurch wird Vertrauen geschaffen.“
Manche Kids sind betrunken, andere drauf
Erst ab einem längeren Aufenthalt werden die Daten abgefragt. Ein Mädelszimmer, zwei Betten, ein Dreier- und ein Einzelzimmer warten auf die Kids. Karg eingerichtet, die abschließbaren Schränke stehen auf dem Flur. Sie kommen teilweise im desolaten Zustand in der Einrichtung an. „Manche sind betrunken, andere drauf. Manche mager, total unterernährt. Trotzdem nerven wir sie nicht mit Fragen und Lösungen. Wir wollen den Kids ihre Selbstbestimmtheit nicht nehmen.“
Bei den Kindern kommt gerade das so gut an. Sie bauen Vertrauen auf. Grundlage für die spätere Arbeit mit den Kids.
Erfahren Grötschel und ihr Team, dass es sich bei den Jugendlichen um Heimausreißer handelt, wird das kurz informiert: Damit keine Vermisstenmeldung bei der Polizei gemacht wird. Das Jugendamt oder die Eltern werden erst nach den vier Tagen informiert. Meist interessiert es sie aber nicht.
Die Kids können in der Einrichtung zur Ruhe kommen. Duschen, etwas Essen. In einem sauberen Bett schlafen. „Die meisten haben vorher nicht auf der Straße geschlafen, sondern sind bei Freunden untergekommen. Die kommen aber meist aus ähnlichen Milieus. Das ist dann Couchsurfing im negativsten Sinne“, so Grötschel.
Wenn die Jugendlichen dann aufeinandertreffen, zeigen sich ihre zwei Gesichter: Das eine: unfassbar empathiefähig. Dann verzichten die Großen freiwillig auf ein Bett, wenn Jüngere verzweifelt eine Unterkunft brauchen. Oder es fallen beim Anblick von unbegleiteten Flüchtlingskindern, die vor der Einrichtung sitzen, Sätze wie diese: „Denen geht es doch genauso scheiße wie uns. Und sie haben sogar noch ihre Heimat verloren.“
Handys müssen eingeschlossen werden
Die andere Seite hat dazu geführt, dass nachts die Handys abgegeben werden müssen. Die Kinder haben nicht viel, wenn dann noch ihr Smartphone. Das weckt Begehrlichkeiten. Diebstähle passieren in der Einrichtung. Rund sechs Mal im Jahr rückt deshalb die Polizei an. Kleine Reibereien gehören dazu, sagt Grötschel. Doch das mache nichts aus.
Sind die vier Tage um, beginnt meist am Vormittag die eigentliche Arbeit der Mitarbeiter im Raum 58. Jetzt gilt es Einrichtungen zu kontaktieren, Eltern zu rufen, immer sind die Kids mit dabei. Jugendliche werde dabei nicht unter Druck gesetzt. Volljährige schon: „Ansonsten würden einige wohl ziemlich lange nicht aus ihrem Trott kommen. Aber Dinge wie einen Personalausweis oder eine Krankenversicherung müssen sie einfach haben.“ Auch bei Ämtergängen helfen Grötschel und ihr Team.
Der Hauptantrieb aber muss von den Kids kommen. Weil das Team vom Raum 58 wenig fordert, öffnen die sich. Erzählen von Missbrauch, Drogen, zeigen ihre Brandflecke auf dem gesamten Körper. Irgendwann gelingen dann auch wieder Therapien. Oder sogar der regelmäßige Schulbesuch.
Wenn sie eine Erfolgsgeschichte beschreiben soll, muss Grötschel kurz innehalten. Ein bisschen Hilfe und dann wird aus der schiefen wieder die gerade Bahn, das gebe es nicht. Stattdessen sind es kleine Fortschritte, die sie und ihr Team als Erfolg feiern. Wenn Jugendliche regelmäßig in der Einrichtung schlafen, statt in einem Parkhaus. Wenn sie beginnen sich um ihre Papiere zu kümmern, statt in den Tag hinein laben. Wenn Beziehungen zu Grötschels Team aufgebaut werden.
Immer wieder kommen Kids nach einigen Jahren noch mal im Raum 58 vorbei. Dann zeigt der 20-Jährige sein Auto, ist stolz auf den Job. Manchmal ist aber auch eine Erkenntnis schon Erfolg genug. Vor Jahren gab es da ein Mädchen, 15, Straßenkind, Prostitution, dann schwanger.
„Eine Einsicht die manch ein Erwachsener nicht hat“
Heute lebt sie ein ziemlich normales Leben, so normal es halt geht mit dieser Vergangenheit. Aber ohne ihr Kind: „Sie sagte uns, dass es so für ihr Kind besser ist. Sie wolle doch, dass es gut geht, dass könne sie nicht leisen. Sie sagte: Es ist nicht bei mir, aber das ist schon ok. Eine Einsicht die manch ein Erwachsener nicht hat.“
Eine andere Teenie-Mutter kommt ebenfalls noch regelmäßig vorbei. Mit ihren Kindern. Die sind wohlauf, aufgeweckt, die Mutter, früher Drogenprobleme, heute clean. Grötschel: „Natürlich wird sie noch betreut. Aber sie hat bei ihren Kids schon viel richtig gemacht.“
Das zeigt, wie falsch Grötschel und ihr Team manchmal mit ihren Prognosen liegen. „Die Kids überraschen uns enorm.“
Info: Raum 58 befindet sich in der Niederstrasse 12-16 in der Nähe der Essener Uni. Die Übernachtung ist für Jugendliche kostenlos. Ein Bett bekommen 14- bis 21- Jährige. Die Einrichtung öffnet um 21 Uhr, um 9 Uhr morgens müssen die Kids Raum 58 verlassen.
Die Einrichtung ist vom Sozialwerk des Cristlicher Verein Junger Menschen (CVJM) und des Sozialdienst Katholischer Frauen (SkF). Die Stadt finanziert das Projekt zum Teil, deshalb ist Raum 58 auf Spenden angewiesen. Wenn du finanziell helfen möchtest, findest du hier die Bankverbindungen.
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