Die Dortmunder Oper zeigt Händels Oratorium „Saul“ szenisch als Tragödieeines Politikers, der sich von der Massenmeinung abhängig macht
Dortmund.
Wer einen derart guten Chor beschäftigt, der muss ihm auch etwas zu tun geben. Nach dieser Devise bringt die Dortmunder Oper seit einiger Zeit berühmte Oratorien auf die Bühne. Georg Friedrich Händels „Saul“ eignet sich hervorragend für eine szenische Realisierung. Denn der biblische Stoff beschreibt eine Politikertragödie mit allen Schikanen. Das Haus ist bei der Premiere nur halb voll, doch das Publikum feiert eine gut gearbeitete Inszenierung und großartige Sänger mit viel Beifall im Stehen.
Der riesige Raum ist leer, ein schwarzes Loch. Nur in der Mitte befindet sich ein weißes Podest. Es wird zur Spielfläche für König Saul und David mit der Schleuder. Die Fäden zieht jedoch das Volk, der Chor. Regisseurin Katharina Thoma untersucht im „Saul“ das Verhältnis von Masse und Individuum. Bühnenbildnerin Sibylle Pfeiffer setzt der üppigen barocken Tonsprache eine reduzierte Schwarz-Weiß-Ästhetik entgegen. Die Handlung wird immer wieder aufgebrochen durch Theater-im-Theater-Elemente, zum Beispiel, wenn der Chor beim integrierten Orgelkonzert die Zuhörer gibt – mit all den Befindlichkeiten, die echte Theaterbesucher so auszeichnen.
Religiöser Mehrwert
1739 saß Händel in London selbst an der Orgel. Damals gab es noch keinen staatlichen Kulturauftrag, und der Komponist war bereits mit drei Opernbetrieben bankrott gegangen. Also verlegt er sich auf das Oratorium. Das wird sozusagen zur Oper des kleinen Mannes, weil die Eintrittspreise niedrig sind. Die alttestamentarischen Geschichten liefern genauso viel Sex and Crime wie italienische Dramen und haben dazu noch einen religiösen Mehrwert.
Während Dortmunds erster Kapellmeister Motonori Kobayashi mit der Ouvertüre startet, trampelt der Chor laut durch die Szene. Die Musik wird zu Gedudel degradiert. Das verstört, aber dann kommt der Triumphgesang der Israeliten. Der kleine David hat den Riesen Goliath besiegt. Und schon ist man mitten drin in der Geschichte. Denn ein neuer Held ist geboren. Der amtierende König Saul macht gute Miene zur Konkurrenz, bis seine Sicherungen durchbrennen.
Solche Irritationen inszeniert Katharina Thoma bewusst und nutzt die barocke Lust an halsbrecherischen Kehlen-Kunststückchen, um fröhliche Slapsticks zu entfesseln, etwa wenn David und Jonathan mit der Handtasche von Sauls hochmütiger Tochter Merab Fußball spielen.
Parallelen zu heute sind erlaubt
Die Dortmunder Philharmoniker musizieren in kleiner Besetzung auf dem halb hochgefahrenen Graben. Kobayashi dirigiert ohne Stab und setzt Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis ein, um Klänge von bezaubernder Durchsichtigkeit zu formen. Sopranistin Tamara Weimerich lässt als exaltierte Merab ihre Koloraturen abgehen wie die Raketen. Julia Amos ist dagegen eine Michal mit süßem Sopran. Ileana Mateescu macht den David mit unschuldigem Mezzo jungenhaft lebendig. Lucian Krasznecs strahlkräftiger Tenor ist viel zu schwer für Barockarien, aber er geht so leidenschaftlich zur Sache, dass dies nicht weiter stört. Und Christian Sist kann den Saul mit machtvollem Bassbariton als Charakter anlegen, der unter Erwartungsdruck zerbricht – Parallelen zu heutigen Politikern sind durchaus erlaubt.
Die Hauptrolle hat natürlich der Chor, der in Dortmund nicht nur gut singen, sondern auch gut spielen kann. Mal in barocken Kostümen und mal in den Kittelschürzen der Töchter Israels brechen die Damen und Herren dem König im Wortsinn die Zacken aus der Krone. Starke Optik und großer Klang verbinden sich damit zu wirklich überwältigenden Bildern.