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„Ich hab irgendwann mit Ampelmännchen geredet“ – Wie Student Carsten aus Bochum in den Drogensumpf abrutschte

„Ich hab irgendwann mit Ampelmännchen geredet“ – Wie Student Carsten aus Bochum in den Drogensumpf abrutschte

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Ein Junkie setzt sich einen Schuss in einem Konsumraum. (Symbolbild) Foto: dpa
  • Die Krisenhilfe Bochum ist eine Anlaufstelle für Drogenabhängige
  • Im Konsumraum können sie sich unter hygienischen Bedingungen Heroin spritzen
  • Mediziner und Sozialarbeiter kümmern sich um die Bedürfnisse ihrer Klienten
  • Hier treffen wir auf einen Junkie (38), der Fragen zu seiner Sucht beantwortet

Bochum. 

Es ist Mittag. 12.10 Uhr im Konsumraum in Bochum. Wir treffen Carsten (Name geändert) und fragen ihn, ob er Zeit für ein Interview hat. „Klar“, sagt er. Aber zuerst will er sich in Ruhe seinen Schuss setzen.

Carsten ist großgewachsen. Und hager. Seine Wangen sind eingefallen, die Augen liegen tief in den Höhlen. Sein Blick schweift immer wieder ins Leere, während er mit uns spricht. Dann ist er plötzlich wieder voll da – so als hätte er kurz vergessen, dass wir mit ihm ein Gespräch führen.

Carsten ist heroinsüchtig. Und man sieht es ihm an.

Carsten, du hast gerade im Konsumraum Heroin gespritzt. Was hast du dir sonst schon alles reingehauen?

Carsten: „Ich habe so gut wie alles auf dem Markt ausprobiert, weil ich in allen Bereichen Experte sein will. Wenn ich von einer Droge höre, dann will ich die Wirkung auch spüren, um mitreden zu können. Täglich brauche ich auf jeden Fall Heroin. Meistens komme ich mit drei bis vier Bubbles am Tag aus (Anm. d. Red.: Heroin oder Kokain in kleinen, runden Verpackungen). Dazu kiffe ich noch regelmäßig.“

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Alleine ein Bubble Heroin kostet in Bochum zehn Euro. Wie finanzierst du dir deine Sucht?

Carsten: „Unterschiedlich. Weil ich nicht mehr arbeiten kann, bekomme ich Hartz 4. Außerdem sammel ich Pfandflaschen und gehe schnorren. Hin und wieder stecken mir meine Eltern was zu, wenn ich nicht mehr weiter weiß.“

Andere werden kriminell, um an ihren Stoff zu kommen.

Carsten: „Ja. Das stimmt. Ich kenne genügend Leute, die andere abziehen oder irgendwo einbrechen. Andere müssen sich prostituieren. Männer und Frauen. Das bleibt mir zum Glück erspart.“

In der Krisenhilfe bestätigen die Mitarbeiter, dass Carsten nicht straffällig wird. Sie berichten, dass er aus gutem Hause komme und die Eltern eine Art Co-Abhängigkeit entwickelt hätten. Sie geben ihm Taschengeld, damit er immer wieder zurückkommt.

Wie viele Eltern drogenabhängiger Kinder versuchen sie, ein Mindestmaß an Kontrolle über Carstens Tagesablauf zu erhalten. Sie glauben, dass sie so verhindern können, dass ihr Sohn noch weiter abrutscht. Oft endet das fatal, weil Co-Abhängige die Sucht ihrer Angehörigen noch fördern.

Eltern von Drogenabhängigen sollten sich auf jeden Fall professionelle Hilfe holen, bevor sie auf eigene Faust versuchen, die Probleme ihrer Kinder zu lösen, sagen die Mitarbeiter vom Konsum-Raum.

Du sagst, du kannst nicht mehr arbeiten. Was hast du vorher gemacht?

Carsten: „Eigentlich war ich Informatik-Student und stand kurz vor dem Vordiplom. Die letzte Klausur habe ich zwei Mal verhauen. Dann hatte ich einen schweren Autounfall, musste mehrfach reanimiert werden und war über eine Woche im künstlichen Koma. Ich hatte zwar vorher schon Heroin gedrückt. Aber da hatte ich zum ersten Mal Kontakt mit Fentanyl. Das Schmerzmittel ist über hundert Mal so stark wie Morphin. Heftiges Zeug. Die Schmerztherapie kannst du nicht einfach so aussetzen, sondern musst sie langsam ausschleichen. Sonst kriegst du üble Entzugserscheinungen, zum Beispiel Krämpfe. Am Ende bin ich bei Methadon gelandet.“

Während Carsten aus seinem Leben erzählt, beugt er sich zu uns herüber, gibt sich geheimnissvoll. Er flüstert, dass ihm verboten worden sei, die Unfallgeschichte in den Räumen der Krisenhilfe zu erzählen.

Er wirkt verwirrt. Zeigt uns seine Unterarme, die völlig vernarbt sind. Früher sei er Borderliner gewesen, habe sich die Arme aufgeritzt, sagt er. Aber das sei lange her.

Als wir die Konsumraum-Mitarbeiter später fragen, ob es Dinge gibt, über die Carsten in den Räumlichkeiten nicht reden darf, sind sie überrascht. Sie erklären, dass Carsten durch seinen langjährigen Konsum oft eine eingeschränkte Wahrnehmung von der Realität hat.

Methadon gilt als Heroin-Ersatzstoff. Für dich kein Weg, um von Heroin herunter zu kommen?

Carsten: „Im Gegenteil. Ich war fast weg von den Schmerzmitteln. Dann hat man mich zur Substitutions-Ambulanz in Bochum geschickt. Nicht in eine normale Praxis, weil wir als Junkies niemandem zugemutet werden können. Dabei habe ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht regelmäßig gedrückt. Da kommst du dir vor wie ein Aussätziger. Mit Methadon habe ich dann auch keine guten Erfahrungen gemacht. Davon kommst du nicht runter. Sondern brauchst immer mehr.“

Als Carsten beginnt, über die Bochumer Substitutions-Ambulanz zu berichten, gerät er in Rage. Er fühlt sich falsch therapiert. Wir haben den Eindruck: Er versucht, einen Schuldigen für seine Sucht zu suchen: Die Ärzte sind Schuld, die Methadon-Therapie – das System.

Stattdessen spritzt du jetzt Heroin. Kostet es nicht Überwindung, sich in die eigene Vene zu stechen?

Carsten: „Am Anfang war ich auch unsicher. Zuerst habe ich es nur mit Wasser ausprobiert. Wollte überhaupt wissen, ob ich das kann mit der Nadel. War aber für mich kein Problem. Danach habe ich einiges ausprobiert.“

Warum gehst du in den Konsumraum?

Carsten: „Wegen der kostenlosen Spritzen und dem günstigen Essen (Anmerkung d. Red.: Frühstück und Mittagessen kosten pro Mahlzeit: 50 Cent) komme ich hier her. Außerdem kann ich hier zum Arzt, wenn es nötig ist.

Was war deine schlimmste Drogenerfahrung?

Carsten: „Ich hatte mal einen Kumpel, der Chemie studiert hat. Mit ihm zusammen habe ich mir sehr reines LSD gespritzt. Das war keine gute Idee. Danach kam ich ein halbes Jahr überhaupt nicht mehr klar. Habe mit Ampelmännchen geredet und so ein Zeug. Da haben die mich erst mal in die Klapse gesteckt.“

Gibt es eine Droge, von der du Finger lassen würdest?

Carsten: „Definitiv Crack. Ich habe Leute gesehen, die völlig abgekackt sind, nachdem sie das Zeug geraucht haben. Das waren normale Leute, die danach geistig gestört waren. Deshalb halte ich mich von Crack fern.“

An dieser Stelle unterbricht Carsten das Interview, weil es Mittagessen im Café der Krisenhilfe gibt. Wir verabreden uns, danach das Interview fortzuführen. Leider taucht Carsten nicht mehr auf. Vielleicht hat er uns einfach schon vergessen.

Gerne hätten wir ihn noch gefragt, ob er von den Drogen runter kommen möchte und welche Erfahrungen er in seinem Alltag mit anderen Junkies macht. Doch dazu kommt es nicht mehr.

Du bist auf der Suche nach einer Drogenberatungsstelle? Die Experten der Bochumer Krisenhilfe sind während der Öffnungszeiten von Montag bis Freitag zwischen 9 Uhr und 13 Uhr zu erreichen unter: 0234 – 964780.

Anonyme Hilfe findest du auch bei der bundesweiten Sucht- und Drogenhotline unter 01805 – 313031 (0,14 Euro pro Minute aus dem Festnetz, Mobilfunk maximal 0,42 Euro pro Minute).