Herne.
Georgios Chaitidis ist die Ruhe selbst. Er sitzt auf der hinteren Bank seiner Imbissbude Thessaloniki in Herne. Hier saß er auch, als Marcel H. (19) hereinkam. Damals, gegen halb neun, am Abend des 9. März. Fast genau drei Tage, nachdem H. den kleinen Jaden in seinem Keller ermordet hatte.
„Er sah unauffällig aus, schmal, blass, relativ klein“, sagt Chaitidis. Sympathisch habe Marcel H. gewirkt, als wäre er einfach ein Nachbar, der einen Gyros-Teller bestellen will.
Niemals den Kindermörder in seinem Imbiss vermutet
Niemals hätte er gedacht, dass es sich bei dem Schwarzgekleideten um den gesuchten Kindermörder handelt. Geschweige denn, dass dieser schmächtige Junge auch Christopher W. (22) umgebracht haben könnte.
„Der Christopher war ja viel kräftiger“. Ein „wirklich netter Junge“ sei er gewesen. Stammkunde. Er wohnte um die Ecke an der Sedanstraße. Am Donnerstagabend, als Marcel H. den Imbiss betritt, brennt seine Wohnung bereits – und Christopher ist tot.
Wenn er das vorher gewusst hätte, wäre er nicht so ruhig geblieben, sagt Chaitidis. „Dann hätte ich bestimmt anders reagiert.“
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Der stämmige Imbissbudenbesitzer mit der Goldkette blickt freundlich, doch sein Ton verrät, dass er auch drastisch hätte handeln können, dass er H. vielleicht selbst angegriffen hätte.
„Rufen Sie die Polizei“
Als Marcel H. im März in seinem Imbiss steht, sagt der ganz ruhig: „Rufen Sie die Polizei.“ Chaitidis versteht erst nicht, was das soll und fragt ihn: „Warum, bist du überfallen worden, hast du einen Unfall gehabt?“
Er sei der gesuchte Marcel H., lautete die Antwort. Chaitidis solle auf seinen Tablet-PC schauen, der vor ihm auf dem Tisch liege. Chaitidis tut, wie ihm geheißen – und die Nachrichten über H. und den Kindesmord von Herne springen ihm entgegen.
Marcel H. habe völlig ungefährlich ausgesehen
Zwar habe Chaitidis schon vorher die Berichterstattung über Marcel H. verfolgt, „aber auf dem Foto sah er ganz anders aus, mit Brille und kürzeren Haaren.“ Zudem: Er erschien kleiner als auf dem Fahndungsbild, und völlig ungefährlich.
„Aber als ich in diesem Moment ins Internet geschaut habe, wusste ich, er ist es“, sagt Chaitidis. Auf Griechisch bittet er seine Frau Prianafilia Macheridou, die Polizei zu rufen. Sie will erst nicht glauben, wer dort plötzlich im Imbiss steht, wählt aber schließlich doch die 110.
Das Ehepaar lässt Marcel H. selbst mit den Beamten sprechen, „damit sie auch glauben, dass er wirklich hier steht und das kein Witz ist“.
Bis die Polizei kommt, bleiben alle völlig ruhig
In den wenigen Minuten, die es dauert, bis Polizisten den Imbiss stürmen und Marcel H. zu Boden bringen, spielen sich merkwürdige Szenen ab. Keine Hektik, keine Angst sei auf beiden Seiten zu spüren gewesen.
„Marcel, wo warst du so lange?“, fragt Chaitidis den 19-Jährigen ruhig. „Am Bahnhof“, antwortet H. ebenso gelassen.
Tatsächlich hat er bis zu diesem Moment fast zwei Tage in der Wohnung seines Bekannten Christopher verbracht, den er mit 68 Messerstichen tötete.
Handy am Spielautomaten zerstört
Dann bittet Marcel H. Chaitidis, den Akku aus H.s Handy zu nehmen. Der 19-Jährige kann es offenbar nicht selbst. Er ist an der Hand verletzt, trägt einen Verband.
Chaitidis folgt der Bitte. Dann nimmt H. das Telefon und zerschlägt es am Spielautomaten, der an der Wand neben ihm steht. Das zerstörte Handy wirft er in den Mülleimer an der Tür.
Chaitidis vermutet, dass Marcel H. Beweise zerstören wollte. Warum, kann er nicht sagen – schließlich stellt sich der mutmaßliche Doppelmörder doch genau in diesem Augenblick der Polizei.
Marcel H. ergibt sich sofort – und der Großeinsatz beginnt
Als die Beamten in den Imbiss kommen, hebt Marcel H. sofort die Hände, erzählt Chaitidis. Keinerlei Gegenwehr. Gefesselt führen die Polizisten H. ab.
„Und dann dachte ich, das war es jetzt und wir können Feierabend machen“, sagt Chaitidis und lacht fast.
Falsch gedacht: Jetzt geht es erst los. Hunderte Polizisten umstellen den Imbiss und die nahe Brandwohnung an der Sedanstraße. Sperren weiträumig ab.
„Ich bin zischendurch mal rausgegangen und habe gefragt, warum die eigentlich noch alle hier sind, Marcel H. war doch schon längst woanders“, so Chaitidis. „Der Polizist hat nur gesagt, das wäre eben die Anordnung.“
„Wie konnte der schmächtige Kerl den großen Mann töten?“
Gegen Mitternacht muss Chaitidis noch mit zur Wache und aussagen. Dort erfährt er erst, dass Christopher W. tot ist. „Ich konnte das kaum glauben, wie kann so ein 60-Kilo-Kerlchen einen so großen, schweren Mann umbringen?“
Endlich, gegen zwei Uhr nachts, darf Chaitidis nach Hause gehen.
„Ich bin doch kein Mörder!“
Doch der Fall beschäftigt ihn noch lange. Journalisten stehen Schlange, um ihn zu interviewen. Frauen fallen ihm um den Hals und danken ihm dafür, ihre Kinder vor dem Mörder gerettet zu haben.
Die Männer aber, die reagieren anders: „Fast jeder Mann hat zu mir gesagt, er hätte Marcel H. umgebracht, wenn er an meiner Stelle gewesen wäre“, so Chaitidis. „Aber ich bin doch kein Mörder!“
Kunden sprechen noch heute über den Fall Marcel H.
Noch heute sprechen Kunden in seinem Imbiss manchmal über den Fall. Chaitidis belastet es aber nicht mehr. „In dem Moment, als Marcel H. hier bei mir war, hatte ich keine Angst. Deshalb konnte ich schnell loslassen.“
Ob er als Zeuge vor Gericht aussagen muss, weiß Chaitidis noch nicht. Eigentlich will er in Urlaub nach Griechenland.