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Calmund zieht den Hut vor dem BVB

Calmund zieht den Hut vor dem BVB

Der frühere Leverkusen-Manager Reiner Calmund erinnert sich im Interview an 2002, als Bayer fünf Punkte Vorsprung verspielte. Er sieht den BVB zu „95 Prozent“ als Meister. „Dortmund hätte es verdient“, sagt Calmund.

Hamm. 

Das Kurhaus in Bad Hamm. Der ehemalige Manager von Bayer Leverkusen wird hier einen Vortrag halten. Sein Manuskript liegt auf dem Tisch. Im Kopf hat der 62-Jährige aber zwei Tabellen. Drei Spieltage vor dem Saisonende führte Leverkusen 2002 mit fünf Punkten. Und Meister wurde Borussia Dortmund. Drei Spieltage vor Schluss führt der BVB 2011 mit fünf Punkten. Und Leverkusen lauert. Reiner Calmund spricht über den besten Fußball – und die Möglichkeit, grandios zu scheitern.

Der Bundesliga wurden Zwillinge geboren. Tabellarische Zwillinge. Wie gefallen sie Ihnen, Herr Calmund?

Reiner Calmund: 2002 hat Bayer Leverkusen den mit Abstand besten Fußball gespielt. So, wie jetzt Borussia Dortmund den besten Fußball spielt. Das ist für mich die erste, die auffälligste Ähnlichkeit. Aber Leverkusen hat darüber hinaus auch noch international den besten Fußball gespielt. Die Mannschaft hatte aber nur 14 Spieler für dieses hohe Niveau. Sie war also platt drei Spieltage vor Schluss. Fast 80 Pflichtspiele insgesamt. 34 in der Bundesliga, sechs im Pokal, 19 in der Champions League, plus: rund 20 Länderspiele, fast jeder.

Aber Bayer stand trotzdem blendend da vor den letzten drei Partien…

Calmund: Der Substanzverlust war nicht groß, er war gigantisch. Aber wir haben, obwohl wir am Ende dreimal nur den Vize-Titel hatten, trotzdem eine überragende Saison gespielt.

Wie haben sich fünf Punkte Vorsprung denn angefühlt?

Calmund: Natürlich fühlt man sich da sicher. Das sind zehn Zentimeter bis zur Ziellinie und du bist vorne. Da denkt man natürlich: Das kriegen wir gebügelt. Wir haben es nicht geschafft, aber ich habe den Dortmundern gratuliert. Sie hatten für mich verdient den Titel geholt, obwohl wir die bessere Mannschaft waren. Ende. Deswegen wäre es aber für mich auch nicht verkehrt, wenn Leverkusen jetzt Meister würde, obwohl der BVB den besseren Fußball spielt.

Sie sind Fan des Dortmunder Fußballs?

Calmund: Ich war beim Spiel der Dortmunder schon so begeistert, dass ich meine fast 150 Kilo vom Sitz hoch geschleudert habe. Und das will etwas heißen. Diese Aggressivität. Diese Laufbereitschaft. Diese Dribblings. Dieses Kombinationsspiel. Diese Kreativität. Dazu die Handschrift von Jürgen Klopp: die taktische Disziplin. Noch einmal: Dortmund hätte es verdient, Meister zu werden. Aber: Leverkusen hätte es 2002 auch verdient gehabt, ist es aber nicht geworden, trotz der fünf Punkte Vorsprung.

Fühlt sich ein grandioses Scheitern anders an als ein alltägliches?

Calmund: Tja. Ich hätte doch eine Konfetti-Allergie bekommen. Meisterschaft, Pokal, Champions League. Aber, jetzt ganz ehrlich: Das hat schon weh getan. Das liegt mir schon im Magen. Und wenn ich sehe, wie die Meisterschale überreicht wird, dann bekomme ich noch immer Gänsehaut.

Was kann schief laufen trotz fünf Punkten Vorsprung? Was ist schief gelaufen?

Calmund: Diese Situation geht auch an das Nervenkostüm. Der eine oder andere Spieler hat diese Belastung nicht ertragen.

Könnten Sie die damalige Bayer-Elf mit der heutigen Borussia vergleichen?

Calmund: Es wird viel von der jungen, nicht teuren Mannschaft des BVB gesprochen. Aber wir hatten auch keine so teure Mannschaft. Ballack, Nowotny, Neuville, Schneider und Ramelow, unsere fünf deutschen Stammnationalspieler, hatten zusammen 12, 14 Millionen Mark gekostet. Da hatten wir auch das Händchen und das Quäntchen Glück wie heute Borussia Dortmund.

Der BVB von heute ist das Leverkusen von gestern?

Calmund: Ich würde sagen: Die Leistung der Dortmunder ist noch beachtlicher. Was die auf die Beine gestellt haben nach der Fast-Insolvenz, was die aus dem Nachwuchs geholt haben, was die auf dem Schnäppchenmarkt gekauft haben: Da muss man den Hut vor ziehen. Aber: Es gibt noch eine Fünf-Prozent-Chance für Leverkusen. Und ich habe erlebt, dass wir Spiele gewonnen haben, in denen wir nur eine Fünf-Prozent-Chance hatten. Und wir haben viele verloren, bei denen hatten wir eine 95-Prozent-Chance. Fünf Prozent können also viel sein.

Auch wegen der Nerven? Der BVB ist sehr jung…

Calmund: Vielleicht sind die jungen Spieler unbekümmerter, so ein Mario Götze, ein Kevin Großkreutz. Ein Erfahrener bringt seine ganze Erfahrung mit, auch das Negative, das, was er im Hinterkopf hat. Stellen Sie sich die Gedanken vor: Ich bin jetzt alt. Ich könnte es aber trotzdem schaffen. Aber das ist dann schon meine letzte Chance…

Angenommen, der Titelgewinn des BVB steht fest: Fangen die Schwierigkeiten dann erst an? Die Spieler sind begehrt. Die Unruhe wächst. Sie mussten Michael Ballack und Ze Roberto an die Bayern abgeben…

Calmund: Was die Dortmunder Spieler leisten, das ist phänomenal. Aber es gibt auch wieder einen Unterschied zum Leverkusen von damals: Ballack, Ze Roberto und Lucio waren im All-Star-Team der Champions League.