Dortmund. Nicht weniger als 32 lange Jahre sollte es dauern, bis die Meisterschale 1995 wieder nach Dortmund kam. Am letzten Spieltag der Saison 1994/95 gewann der BVB seinen vierten von sechs Titeln, nachdem er Tabellenführer Bremen noch abgefangen hatte. Dortmund befand sich im Ausnahmezustand.
Schwarz-Gelb besiegt den Hamburger SV mit 2:0, Werder Bremen, vor dem 34. Spieltag noch einen Punkt vor den Borussen, unterliegt zur gleichen Zeit beim FC Bayern mit 1:3. „Die Mannschaft hat Großartiges geleistet”, jubelt Trainer Ottmar Hitzfeld.
Aber mit diesem Titel hat auch der Trainer sein Meisterstück gemacht, denn der Weg auf den Thron ist mit fast schon zu vielen Rückschlägen verbunden. „Das Kreuz mit dem Kreuzband”, oder „Dortmund zwischen Triumph und Tragik” – so hätte man den turbulenten Verlauf der Saison überschreiben können.
Schon die Hinrunde ist mit 28 Punkten meisterlich
Sie beginnt meisterlich. Die Dortmunder, verstärkt mit den „Italienern” Andreas Möller und Julio Cesar sowie dem Leverkusener Martin Kree, spielen ihre Gegner in Grund und Boden, virtuos und berauschend, ein Ensemble, das in Piano und Fortissimo vortrefflich harmoniert. Jürgen Röber, der damalige Trainer des VfB Stuttgart, bescheinigt dem BVB nach der 0:5-Niederlage im Westfalenstadion „Fußball wie von einem anderen Stern”.
Matthias Sammer setzt in der Libero-Position und Julio Cesar als Innenverteidiger ganz neue Maßstäbe für Bundesliga-Abwehrspieler. Das magische Offensiv-Dreieck mit Mittelfeld-Chef Andreas Möller sowie den trickreichen wie torgefährlichen Angreifern Stephane Chapuisat und Karlheinz Riedle treibt mit den gegnerischen Verteidigern Schabernack. Sie stehen für Raffinesse, Angriffsschwung und Tore.
Aber da gibt es auch noch einen Stürmer, der den deutschen Nationalspieler Riedle zwischenzeitlich sogar auf die Bank verdrängt und sich in der Form seines Lebens wähnt. Dänemarks wie ein Held verehrter Europameister Fleming Povlsen meldet sich nach einer Schwächeperiode mit Klasse-Leistungen und -Toren zurück. Die ganze Liga beneidet den BVB um die Hochkaräter im Sturm. Aber dann sind es plötzlich nur noch zwei.
Es bleibt der „Baby-Sturm” mit Ricken und Tanko
Denn Povlsen erleidet im September 1994 in einer denkwürdigen Pokalschlacht am Betzenberg beim 6:3-Sieg des 1. FC Kaiserslautern nach Verlängerung einen Kreuzbandriss, den zweiten innerhalb von 18 Monaten. Diesen Ausfall verkraftet die Mannschaft besser als erwartet. Sie schließt die Hinrunde mit 28:6-Punkten ab – das würde heute bei der Drei-Punkte-Regelung 40 Zählern (!) entsprechen.
Hitzfeld warnt: „Das ist eine tolle Zwischenbilanz. Aber um Meister zu werden, muss alles passen. Einen weiteren längerfristigen Ausfall können wir uns nicht erlauben.”
Doch es folgt Kreuzbandriss Nummer zwei: Dortmund liegt nach dem 2:0-Erfolg im Rückspiel des UEFA-Cups gegen Lazio Rom noch im Siegestaumel, als sich der „unersetzbare” Chapuisat beim lockeren Trainingsspiel nach einem Zusammenstoß mit Co-Trainer Michael Henke krümmt.
Die düsteren Prognosen werden nachmittags zur Gewissheit: Borussia muss die Saison ohne Chapuisat zu Ende spielen.
Die Hoffnung sank auf den Nullpunkt
Schwarz-Gelb scheint den Titel verspielt zu haben. Hitzfeld gesteht später: „Die Hoffnung war nicht mehr da.” Chapuisats Operation folgt abends das 0:3 gegen Leverkusen.
Fast zeitgleich ereilen Hitzfeld neue Hiobsbotschaften. Sammer begibt sich wegen einer Achillessehnenverletzung in ärztliche Obhut, Möller wird wegen seiner legendären „Oster-Schwalbe” gegen Karlsruhe für zwei Spiele gesperrt, und Riedle bekämpft in diesen Wochen mehr eine Pollen-Allergie als gegnerische Verteidiger.
Damit nicht genug. Am 18. Mai 1995 schwört Ottmar Hitzfeld in einer ungewöhnlich langen Mannschaftssitzung seine Spieler auf den Bundesliga-Endspurt ein. Er fordert „ein Mehr an Aggressivität”. Wenig später passiert es im Training: Torwart „Teddy” de Beer kollidiert mit Riedle, der Stürmer fällt wie vom Blitz getroffen ins Gras und verdreht sich das Knie: sechs Monate Pause.
Statt Povlsen, Chapuisat und Riedle stürmen bei Borussia Lars Ricken (17) und Ibrahim Tanko (18). Hitzfeld nennt die beiden Talente „unseren Baby-Sturm”. Sie raffen sich mit den älteren Mitspielern zu einem grandiosen Saisonfinale auf. Weil der BVB am vorletzten Spieltag nach 0:2-Rückstand eine Energieleistung in Duisburg mit einem 3:2-Triumph krönt (Tore: Reuter 2, Zorc), muss das Saisonfinale über die Meisterschaft entscheiden. Borussia gewinnt vor 43 000 entfesselten Zuschauern gegen den HSV mit 2:0 (Tore: Möller, Ricken), Bremen patzt in München. Nach 32 Jahren steht der BVB wieder ganz oben. Und in der Stadt wird der Ausnahmezustand ausgerufen.