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Ein fast normales Leben dank Methadon

Ein fast normales Leben dank Methadon

Martin Pilger wartet am Empfang der Essener Suchthilfe Direkt. Die Mitarbeiterin zapft für ihn eine klare Flüssigkeit aus einem großem Beutel in einen Plastikbecher. Was wie ein Schluck Wasser aussieht, ermöglicht Pilger ein beinahe normales Leben: Es ist Methadon. Einmal in der Woche kommt er in die Ambulanz, um sich die Ration für sieben Tage zu holen.

Essen (dapd-nrw). Martin Pilger wartet am Empfang der Essener Suchthilfe Direkt. Die Mitarbeiterin zapft für ihn eine klare Flüssigkeit aus einem großem Beutel in einen Plastikbecher. Was wie ein Schluck Wasser aussieht, ermöglicht Pilger ein beinahe normales Leben: Es ist Methadon. Einmal in der Woche kommt er in die Ambulanz, um sich die Ration für sieben Tage zu holen. „Das hat mir das Leben gerettet“, sagt der lebensfrohe 58-Jährige. Seit mehr als 20 Jahren trinkt er täglich die Ersatzdroge. Was für ihn inzwischen Alltag ist, war vor 25 Jahren noch eine Sensation: Am 1. März 1988 startete NRW als erstes Bundesland ein Methadonprogramm, das schwer Heroinabhängigen helfen sollte.

„Das Projekt war eine Grundlage dafür, dass sich die Substitutionsbehandlung in ganz Deutschland verbreitet hat“, sagt der Direktor der Essener LVR-Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Norbert Scherbaum. Es sei ein Meilenstein gewesen. Er arbeitete als junger Assistenzarzt damals im Team. Zunächst hatten nur Abhängige in den Städten Essen, Bochum und Düsseldorf die Möglichkeit, am Programm teilzunehmen.

„Vorher gab es nur Abstinenztherapien“, erinnert sich der Sozialarbeiter Martin Dingermann von der Suchthilfe Direkt. Viele Abhängige hätten die aber nicht durchgehalten. „In den 80er Jahren führten die zunehmende Zahl der HIV-Positiven, die offene Drogenszene und die steigende Zahl der Drogentoten zu einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion um die Behandlung der Heroinabhängigkeit“, erzählt Scherbaum. Was zunächst nur einzelne Ärzte unter erheblichen persönlichen Risiken machten, wurde daraufhin zum Modellprojekt.

Ziele hochgesteckt

„Die Teilnahme war an hohe Voraussetzungen geknüpft“, sagt Dingermann. Wer mitmachen wollte, musste mindestens 22 Jahre alt, mehrere Jahre heroinsüchtig und nicht noch von anderen Substanzen abhängig sein. Außerdem musste er zwei gescheiterte Therapien nachweisen können. Dafür seien auch die Ziele hochgesteckt gewesen: Gesundheitliche Stabilität, berufliche Rehabilitation und die Entkriminalisierung erhofften sich die Behörden. In drei Jahren sollten die Teilnehmer komplett clean werden, also auch nicht mehr von Methadon abhängig sein.

„Die Ziele waren viel zu hoch gesteckt“, sagt Gerlinde Reif, die das Projekt 1991 für den Landkreis Unna übernahm und inzwischen in Essen arbeitet. Nur schwer abhängige Menschen seien als Teilnehmer akzeptiert worden, und die hätten nicht mal eben so eine Arbeit gefunden oder seien in drei Jahren abstinent geworden.

So ein Fall ist Martin Pilger. Er erzählt: „Mit 15 Jahren ging es mit Hasch los, mit 19 Jahren gab es das erste Mal Heroin.“ In den 70ern und 80ern machte er zwei Langzeittherapien, war zwischendurch clean, wurde aber immer wieder rückfällig. „Wenn die Freundinnen dann Schluss gemacht hatten, da bin ich rückfällig geworden.“ Und das, obwohl er sah, wie sich schon vorher seine Freunde durch die Drogen veränderten. „Ich brauchte 100 D-Mark am Tag, um Heroin zu kaufen“, das Geld habe er sich vor allem mit Kaufhausdiebstählen beschafft.

Dann wurde seine ebenfalls heroinabhängige Freundin schwanger, und beide gingen 1991 ins Essener Methadonprogramm. „Wir haben einen gesunden, erwachsenen Sohn“, strahlt Pilger, und der Mann mit der hünenhaften Figur und den kurzen grauen Haaren wirkt trotz seiner dunklen Ringe unter den Augen unbeschwert und glücklich. Von der Mutter ist er getrennt, seit der Sohn zwei Jahre alt ist. In sein altes Muster ist er nach der Trennung aber zum ersten Mal nicht zurückgefallen. „Ich bin jetzt 20 Jahre frei von harten Drogen“, sagt er und lächelt. Nicht alle seiner Freunde haben das geschafft. „Wenn das ein paar Jahre vorher angefangen hätte, würden viele Leute noch leben“, meint er.

Neue Probleme aufgetaucht

Etwa fünf Jahre dauerte das Erprobungsprogramm. Anfangs gab es viel Kritik, von „Dealern in weiß“ war die Rede. Die Behörden zogen dennoch ein positives Fazit, berichtet Dingermann. „Es ist eine lebenserhaltende Maßnahme“, beschreibt er die Substitution. Sein ältester Patient sei heute 67 Jahre. Dass ein Heroinabhängiger überhaupt so lange lebt, sei vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen. „Letztendlich führte der Erfolg des Erprobungsvorhabens dazu, dass Substitution zu einer Regelbehandlung der Krankenkassen in Deutschland wurde“, sagt Scherbaum.

Inzwischen sind andere Probleme dazugekommen, an die vor 25 Jahren niemand gedacht hat. „Sucht im Alter ist ein großes Thema“, sagt Sozialarbeiterin Reif. Es gebe keine passenden Altersheime für heroinabhängige Patienten. Scherbaum hat zudem festgestellt: „Im manchen Gebieten Deutschlands ist die Bereitstellung der Substitution ein Problem, besonders im ländlichen Raum.“ Viele der Ärzte, die Methadon ausgeben, gehen seinen Angaben zufolge in den kommenden Jahren in Rente. Auch Pilger sorgt sich darum, wie sein Leben im Alter aussehen wird. Fröhlich stimmt ihn aber, dass er überhaupt eines hat. „Ich habe Glück“, sagt er bestimmt.

dapd

2013-03-01 07:37:06.0