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Warum Ärzte immer öfter ihre Patienten nicht mehr verstehen

Warum Ärzte immer öfter ihre Patienten nicht mehr verstehen

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Foto: WAZ FotoPool
In Krankenhäusern häufen sich die Missverständnisse zwischen Medizinern und Patienten, weil viele neu eingestellte Ärzte aus dem Ausland nicht richtig Deutsch sprechen. Ärztekammern und Patientenschützer warnen: Zum Teil herrsche „Sprachlosigkeit“ in den Kliniken.

Essen. 

Die Klagen über Krankenhaus-Ärzte aus dem Ausland, die schlechte Deutschkenntnisse mitbringen, nehmen zu, bestätigt der Vorsitzende des Marburger Bundes und Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, im Gespräch mit der WAZ-Mediengruppe. Er fürchtet, dass sich die Sprachprobleme zu „einer Quelle von Haftungsfragen für Kliniken und Abteilungsleiter“ entwickeln könnten.

Zuwachsraten bei zehn Prozent

„Inzwischen gibt es keine Veranstaltung des Marburger Bundes mehr, auf der nicht über die Deutschkenntnisse von zugewanderten Krankenhausärzten geredet wird. Die Zuwachsraten ausländischer Ärzte in deutschen Kliniken liegen seit Jahren bei über zehn Prozent“, so Henke. Derzeit arbeiten rund 5000 ausländische Ärzte in Kliniken in NRW. Viele kommen aus Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Russland, in letzter Zeit auch aus arabischen Ländern. In manchen Abteilungen hat heute jeder zweite Arzt keinen deutschen Pass.

Jüngst hatte der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, geklagt, mancher Chefarzt könne sich nur noch mit einem Drittel seiner Mitarbeiter auf Deutsch unterhalten.

Der Marburger Bund fordert einheitliche Regeln für anerkannte Sprachprüfungen von Medizinern. Die Verfahren zum Nachweis von Deutschkenntnissen sind heute von Bundesland zu Bundesland verschieden. Oftmals, so berichten Insider, seien die Tests viel zu leicht.

Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz bestätigt: „Patienten erzählen uns von erheblichen Verständigungsproblemen mit Krankenhausärzten. Wir beobachten seit Jahren immer mehr sprachliche Unstimmigkeiten in ärztlichen Dokumentationen.“ „Wenn Ärzte, die ein Sprachproblem haben, auf ältere Patienten treffen, die nicht mehr gut hören können, dann potenziert sich das Problem noch.“

Die Bildungsminister der Länder und des Bundes hätten laut Brysch schon längst gegensteuern und mehr Medizin-Studienplätze in Deutschland schaffen müssen. „In den letzten zehn Jahren sind 30 000 Ärzte-Stellen in den deutschen Krankenhäusern dazugekommen. Deshalb werden in Deutschland inzwischen praktisch alle eingestellt, die eine Approbation vorweisen können.“

Operation am Akkusativ

18 Männer und zwei Frauen sitzen im Besprechungszimmer. Fast alle tragen weiße Kittel, einige haben einen Kloß im Bauch. Denn heute ist Prüfungstag im St.-Anna-Hospital. Heute sollen sie Deutschlehrer Jens Borchwald zeigen, was sie schon drauf haben. Heißt es „sich kümmern für“ oder „sich kümmern um“? Sagt man in der Anrede: „Sehr liebe Familie“? Lehrbücher liegen auf den Tischen. Ihr Titel: „Erkundungen“. Die Expedition führt tief in den Akkusativ, vorbei am Modalverb, mitten rein in den Konjunktiv I.

Harte Nüsse für diese Runde aus Assistenzärzten und Hospitanten. Sie kommen aus Jordanien, Syrien, Griechenland oder aus der Ukraine zu uns, weil deutsche Ärzte nach England, Norwegen oder in die Schweiz abwandern. Sie erkennen Patellasehnen, aber nicht jedes Pronomen.

Kyprianos Hadjiafxentis (29), Assistenzarzt im St.-Anna-Hospital Herne, ist, wie viele seiner Kollegen mit Migrationshintergrund, schon in sprachliche Fallen gerutscht. Der Zyprer arbeitet seit 2009 in Deutschland. Natürlich kann er sich mit Patienten unterhalten. Und Begriffe wie „Leukämie“ oder „Anästhesie“ gehen ihm locker über die Zunge. Die kommen ja aus dem Griechischen. „Ich habe kein Problem, mit Kollegen über medizinische Themen zu sprechen, aber ich verstehe noch nicht sofort alles, was Patienten sagen“, gibt der Mediziner zu. Denn was ist, wenn der Mensch im Krankenbett ein kerniges Ruhrdeutsch pflegt. Wenn er jammert: „Da pockert wat“, „Ich hab’ Rücken“ oder „Mir geht die Düse, Dokter“. Das steht doch nicht im Duden.

„B2“ muss es mindestens sein

„B2“ heißt das Sprachniveau, das alle ausländischen Ärzte mindestens erreichen müssen, wenn sie in Deutschland in ihrem Beruf arbeiten wollen. Auf jeder Anwerbe-Messe im Ausland, auf Internet-Seiten und in 1000 Broschüren steht: „B2“ muss es sein. Aber jeder, der sich in der Materie auskennt, weiß, dass „B2“ manchmal nicht mehr ist als ein Buchstabe und eine Zahl. Diese Europäische Niveaustufe für Sprache bedeutet, dass ein Deutsch-Schüler sich schon ohne große Anstrengung mit Muttersprachlern unterhalten kann. Soweit die Theorie. Professor Georgios Godolias, Ärztlicher Direktor des Zentrums für Orthopädie und Unfallchirurgie im Ortsteil Wanne, kennt die Praxis: „B2 ist nicht immer gleich B2. Der eine kann mehr, der andere weniger. Wir haben hier ein anderes, höheres Ziel. Unsere Ärzte sollen möglichst das C2-Niveau erreichen.“ Das ist die höchste Stufe, die erreichbar ist. So eine Art Deutsch-Diplom. Der sprachliche Mercedes-Stern, den sich die Ärztegewerkschaft Marburger Bund flächendeckend für zugewanderte Mediziner wünscht.

Georgios Godolias hat griechische Wurzeln, ist schon seit 1976 in Deutschland. In seiner Klinik arbeiten 65 Ärzte. „Zwei Drittel haben Migrationshintergrund“, erzählt Godolias. Damit das im Krankenhausalltag gut geht, fördern Deutschlehrer wie Jens Borchwald Ärzte, die sprachlich Nachholbedarf haben. Professor Godolias sagt: „Es reicht nicht, ganz gut Deutsch zu können. Wer in diesem Beruf arbeitet, der sollte die Feinheiten der Sprache verstehen.“ Besonders effektiv ist das so genannte „Coaching“. Dabei begleitet der Sprachlehrer den Arzt stundenlang bei der Arbeit und bespricht anschließend mit ihm die Fehler.

Der Kurs im Anna-Hospital ist ein Pilotprojekt. Das NRW-Gesundheitsministerium, die Ärztekammern, die Krankenhausgesellschaft NRW und das Bundesamt für Migration machen ihn möglich. Selbstverständlich sind solche Angebote nicht. Es ist nur ein Leuchtturm, und die Ebene ist weit.

Viele lassen sich Zeit mit dem Test

In NRW prüfen die Bezirksregierungen, ob ausländische Ärzte ausreichende Sprachkenntnisse mitbringen Im Regierungsbezirk Münster meldeten sich im letzten Jahr 80 Ärzte zur Prüfung. Sie mussten Fragen zu einem kurzen Fachaufsatz beantworten und ein simuliertes Arzt-Patienten-Gespräch verstehen. Die Erfahrung zeigt: 90 Prozent bestehen diese Tests. Insider wissen aber auch, dass sich nur jene zur Prüfung melden, die kurzfristig die Berufszulassung anstreben. Es heißt, dass viele zugewanderte Ärzte in den Kliniken unter Anleitung arbeiten und sich mit der Prüfung Zeit lassen.

Jens Borchwald bittet zur Prüfung. Ein Arzt steht auf und geht nach vorn. Was er wolle? „Die Zettel“. „Den Zettel“, sagt der Lehrer laut und deutlich. Der Akkusativ ist so hartnäckig wie eine Angina.

Professionelle Vermittler kassieren ab

Der Marburger Bund warnt vor kommerziellen Vermittlern, die ausländischen Ärzten gegen Geld Kontakte zu deutschen Arbeitgebern anbieten. „Ihre Kunden zahlen oft mehrere tausend Euro und erleben nicht selten danach ein Desaster, weil sie in Deutschland sprachlich und fachlich nicht zurechtkommen“, sagt Gewerkschafts-Chef Rudolf Henke. Professor Georgios Godolias aus Herne spricht in diesem Zusammenhang von einer „Katastrophe“. Er weiß: Nur wenige Betroffene sprechen offen über die Verträge, die sie unterschrieben haben. Sie schämen sich oder haben Angst.

Meist sollen die Kunden den Vermittler für Dienstleistungen bezahlen, die nichts wert sind. Denn für studierte Mediziner ist es relativ leicht, eine Stelle in Deutschland zu bekommen. Viele Arbeitgeber übernehmen auch die Kosten für Sprachkurse und organisieren Wohnungen.