Im Westen von Warschau parke ich mein Auto in einem schicken Neubaugebiet. Es ist Samstagnachmittag, zehn anstrengende Stunden Autofahrt aus Deutschland liegen hinter mir. Und noch mehr als zehn im Bus vor mir. Das Ziel: Die vom Krieg gezeichnete Ukraine, Kiew.
Mit großem Rucksack auf dem Rücken geht es zum Busbahnhof „Zachodnia“. Seit Wochen sollen hier Tausende Menschen aus der Ukraine trotz Krieg und permanenten russischen Attacken zurück in ihre Heimat fahren. Als ich ankomme, ist es am Busbahnhof in Warschau am späten Samstagnachmittag voll. Aber es gibt kein Chaos. Fahrtzeit nach Kiew: Etwa 16 Stunden.
Der Bus in die Ukraine startet in Warschau
Als der grüne Doppeldecker ankommt, stehen fast nur Frauen und Kinder mit mir am Bussteg. Manche mit riesigen, prall gefüllten Koffern, andere hingegen nur mit Handgepäck. „Kiew?“, fragt der Busfahrer mich beim Einladen. Als würde er glauben, ich hätte mich verlaufen. Die Sonne brennt derweil, im Bus ist es heiß, an den Innenscheiben ist überall Kondenswasser zu sehen. Als der Bus losfährt, springt die Klimaanlage an. Welch ein Segen.
Die Kommunikation mit den Menschen um mich herum ist schwierig. Niemand spricht wirklich Englisch. Mit Händen, Füßen und Smartphone-Übersetzer kriege ich raus, dass diejenigen mit den dicken Koffern dauerhaft in die Ukraine zurückgehen wollen. Sie vermissen ihre Heimat. Die mit dem kleineren Gepäck wollen eher nur nach den Verwandten sehen oder etwas aus ihren Wohnungen holen.
Kurz bevor ich losfuhr, lernte ich in Deutschland Valeria aus Kiew kennen. Als sie hörte, dass ich in ihre Heimat fahre, bezeichnete sie mich erst als „verrückt“. Denn: „Da ist Krieg“. Dann überlegte sie kurz, mir ihre Wohnungsschlüssel zu geben, damit ich ihren Pass mit amerikanischem Visa aus ihrer Wohnung hole. Auch ein paar teure Klamotten würden noch in Kiew liegen.
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So gut kannten wir uns dann aber doch noch nicht, als dass sie mir ihre Wohnungsschlüssel anvertrauen wollte. Sie würde selbst gerne in ihre über alles geliebte Heimat zurückkehren, aber zu groß ist nach wie vor die Angst vor dem Krieg. Im Gegensatz zu vielen anderen Ukrainern, mit denen ich in Warschau in den Bus gestiegen bin.
Auch wenn die Fahrt in ein Kriegsgebiet geht, ist die Stimmung nicht angespannt. Es wird geredet und manchmal auch gelacht, Handys bimmeln. Vor mir macht eine Frau mit ihrem Kind Faxen. Als es spät abends längst dunkel ist, nimmt der Bus nicht den nächstgelegenen Grenzübergang in die Ukraine, sondern heizt im äußersten Osten von Polen in Richtung Süden über eine viel zu schmale Straße. Bei Gegenverkehr mag man kaum hinsehen.
Dann plötzlich Aufregung im Bus: Weil eine Frau durchgängig laut in ihr Telefon plappert, platzt meiner Sitznachbarin der Kragen und sie macht auf Ukrainisch eine deutliche Ansage. Danach redet niemand mehr. Schlafenszeit. Im Stockfinstern erreichen wir nachts einen kleinen Grenzübergang, die Flutlichtmasten leuchten hell. Hier enden Polen und die EU.
Erst kommt ein ziemlich gut gelaunter polnischer Grenzsoldat in den Bus und kassiert unsere Pässe zur Kontrolle ein, danach auf der anderen Seite des kleinen Flusses „Bug“ eine ukrainische Soldatin. Sie stutzen kurz, als sie meinen deutschen Reisepass sehen, stellen aber keine Fragen. Die ganze Prozedur dauert etwa drei Stunden. Das ist zeitlich noch im Rahmen, wie die Rückfahrt beweisen sollte.
Ukraine-Krieg: Erste Barrikaden hinter der Grenze
Hinter der Grenze ploppt eine SMS von Vodafone auf meinem Handy auf: „Sie sind gerade in der Ukraine. Wegen der aktuellen Situation ist Roaming für sie kostenlos. Passen Sie bitte auf sich auf!“. Mache ich. An der Grenze selbst war sonst noch nicht zu merken, dass der Bus in ein Land fährt, das im Krieg ist. Das ändert sich aber dahinter ziemlich schnell: Wir treffen auf die ersten Barrikaden der Armee. Fotografieren verboten.
Diese Checkpoints bestehen meist aus weißen Sandsäcken. Manchmal auch getarnt mit dunklen Lumpenfetzen, teilweise mit Schießscharten. In viele wurde oben die blau-gelbe Fahne der Ukraine gesteckt.
Auch Panzersperren sind oft zu sehen. Mitten in der Nacht passiert der Bus im strömenden Regen den ersten großen Checkpoint. Soldaten haben aus Sandsäcken einen kleinen Bunker mitten auf die Straße gebaut. Zwei von ihnen hocken drinnen und wärmen sich an einer Feuertonne. Anhalten tun sie uns nicht. Der Bus umkurvt die aufgestellten Barrikaden schnell und fährt im hohen Tempo weiter.
Die Front ist hier ganz im Westen der Ukraine weit weg, nur Raketeneinschläge gibt es immer wieder. Sowohl auf der Hauptstraße als auch in davon abgehenden Seitenstraßen sind ständig Barrikaden zu sehen. Teilweise wurden auch Gebäude mit Sandsäcken und Panzersperren zu Festungen umgebaut. Kein Wunder: Vor einigen Wochen hielt man es für durchaus realistisch, Russland könnte die Ukraine in einem Blitzkrieg überrollen und in kurzer Zeit das gesamte Land attackieren.
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Während der Bus an alledem vorbeirast, überkommt mich nach 20 Stunden auf der Straße die Müdigkeit und ich schlafe ein.
Ukraine-Krieg: Apokalyptisches Bild in Vorort
Als sich meine Augen nach einer Weile wieder öffnen, ergibt sich mir draußen ein schon fast apokalyptisches Bild. Der Bus fährt am sehr frühen Sonntagmorgen über eine große Hauptstraße durch Rivne (250.000 Einwohner). Es schüttet heftig, niemand ist im Stockdunklen unterwegs. Und: Eine Sirene jault ohne Pause. Nicht übermäßig laut, aber hörbar. Flugalarm. Russland greift anscheinend wieder an.
Rivne war in der Vergangenheit mehrfach Ziel von Angriffen, 19 Menschen sollen zum Beispiel bei einem Raketeneinschlag in einem Hochhaus gestorben sein.
Ich hole mein Handy raus und sehe, dass die entsprechende Warn-App die komplette Ukraine in rot zeigt. Die hart umkämpfen östlichen Regionen mit dem Donbass dunkler als den Westen, wo wir gerade sind. Der Bus fährt an einer zentralen Haltestelle in Rivne vorbei. Mit aufgezogenen Kapuzen stehen dort ein paar Menschen im prasselnden Regen. Keiner von ihnen bewegt sich auch nur ansatzweise. Flugalarm ist einfach zu normal geworden, als dass er noch viele aufschreckt.
Wie entspannt die Ukrainer in den nicht hart umkämpften Gebieten mittlerweile bei den Sirenen sind, hatte ich bereits vor meiner Abfahrt von Einheimischen und auch Kriegsreportern immer wieder gehört. Dementsprechend hält sich auch meine Aufregung in Grenzen. Trotzdem ist es der erste Luftalarm in meinem Leben, völlig kalt lässt einen so etwas nicht.
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Wie viele Menschen in Deutschland haben so etwas schon mal erlebt? Viele Flüchtlinge und ein paar Ältere aus dem Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich. Sonst kaum jemand. Im Bus gibt es keine größere Aufregung. Es herrscht weiter Stille, aber keine angespannte Atmosphäre. Dass diese Sorglosigkeit nur eine trügerische ist, sollte sich wenige Stunden später beweisen.
Kaum Tankstellen mit Benzin in der Ukraine
Die weitere Fahrt gen Osten nach Kiew verläuft vorerst unspektakulär. Die Sonne geht auf, der Regen bleibt. Es schüttet seit Stunden, große Pfützen säumen die Straßen, im Bus wird viel geschlafen.
Was auf der gesamten Fahrt am Straßenrand auffällt, sind die verwaisten Tankstellen. Viele haben zu, an den Säulen werden keine Preise angezeigt oder höchstens mal AdBlue angeboten. Der Grund: Es gibt große Nachschubprobleme in der Ukraine. Sobald irgendwo doch mal was verkauft wird, bilden sich lange Schlangen vor den Zapfsäulen.
Es geht weiter schnurstracks nach Kiew, Pausen macht der Busfahrer kaum. Die Hauptstadt der Ukraine war in den Wochen vor meiner Fahrt von Raketeneinschlägen verschont geblieben, die russische Armee hatte sich längst aus dem Gebiet zurückgezogen. Ein einheimischer Kontakt berichtete mir vom halbwegs normalen Leben, das dort wieder eingekehrt sei. Straßen und Cafés seien wieder gut besucht, die Menschen träfen sich draußen.
Als ich selbst kurz vor Kiew bin, werde ich deswegen negativ überrascht, als ich über das Handy nochmal die letzten Nachrichten für die Stadt checke. „Bürgermeister Vitali Klitschko meldet mehrere heftige Explosionen“, heißt es unter anderem bei Twitter.
Ausgerechnet jetzt. Meine Sitznachbarin fängt plötzlich an, sich den Puls zu messen. Wenig beruhigend. Ich versuche meine Pläne der neuen Situation anzupassen. War das nur der Anfang und es kommt noch mehr? Ist der Angriff Putins Rache dafür, dass zum Beispiel jetzt auch Spanien Panzer an die Ukraine liefern will?
Um mich herum zeigen sich die Frauen gegenseitig Nachrichten auf ihren Handys, der Angriff macht die Runde. Und der Bus rauscht weiter auf Kiew zu. Dem Ort, an dem viele von ihnen wieder leben wollen. „Hoffen wir, dass nicht noch mehr kommt“, sagt eine Mitfahrerin.
Ukraine: Ankunft im ruhigen Kiew
Ich muss meine Pläne umschmeißen. Sicherheit habe immer oberste Priorität, trichterte mir mal ein erfahrener Kriegsreporter ein. Eigentlich wollte ich nach der Ankunft meine Sachen am nahegelegenen Hauptbahnhof verschließen und den zentralen Platz von Kiew, den berühmten Maidan, aufsuchen. Nun aber entschließe ich mich, nach Ankunft sofort zur Unterkunft zu gehen und bei einem möglichen erneuten Luftalarm entweder am Hauptbahnhof, wo der Bus ankommt, oder in einer U-Bahnstation Schutz zu suchen.
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Die letzten Kilometer vor Kiew blicke ich ständig auf die Luftalarm-App. Keine Warnungen für den Großteil des Landes und die Region Kiew, beruhigend. Nur im Osten gibt es – wie fast immer dieser Tage – Luftalarm.