Olaf Scholz kündigt harte Sanktionen im Einvernehmen mit den westlichen Partnern an, sollte Wladimir Putin eine Invasion in der Ukraine starten. Doch weil er Nord Stream 2 partout nicht in den Mund nimmt, bleibt eine Unsicherheit. Mehr und mehr erinnert das an Harry Potter und Lord Voldemort, den Namen des Bösewichts, den niemand aussprechen darf.
Wird Olaf Scholz tatsächlich die Inbetriebnahme der Gas-Pipeline stoppen, so wie es EU- und NATO-Partner als Sanktion gegen Russland vehement fordern? Es gibt Spekulationen und mehrere Theorien, warum es dem Bundeskanzler so schwer fällt, das offen und klar auszusprechen.
Olaf Scholz: Ist DAS der wahre Grund für sein Schweigen über Nord Stream 2?
Insgesamt kursieren aktuell vor allem sechs Erklärungsansätze im politischen Berlin, warum Olaf Scholz über Nord Stream 2 schweigt. Alle bleiben spekulativ, doch irgendwo muss der tatsächliche Grund liegen. Wir stellen sie hier vor. Besonders die sechste Theorie wird in den letzten Tagen häufiger ins Spiel gebracht.
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Mehr über Kanzler Olaf Scholz:
- Der 63-Jährige ist in Hamburg aufgewachsen.
- Der Sozialdemokrat war Bundesminister für Arbeit und Soziales (2007-2009), Erster Bürgermeister von Hamburg (2011-2018) sowie Bundesfinanzminister (2018-2021).
- Seit dem 8. Dezember 2021 ist Olaf Scholz Bundeskanzler.
- Der Hanseat ist verheiratet mit der SPD-Politikerin Britta Ernst, die Ministerin in Brandenburg ist.
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Theorie 1: Die offizielle Erklärung von Olaf Scholz
Kanzler Olaf Scholz erklärt seine rhetorische Zurückhaltung beim Punkt Nord Stream 2 damit, dass er nicht alle Karten auf den Tisch legen will, damit für den Kreml unklar bleibt, welche Sanktionen im schlimmsten Fall drohen könnten. Es gehe um „strategische Undeutlichkeit“, also eine Taktik.
Gleichzeitig versichert Scholz jedoch, dass man sich mit den westlichen Partnern abgestimmt habe und alles vorbereitet sei. Durch seine eigene Andeutung, dass solche Sanktionen auch Deutschland selbst „einen hohen Preis“ kosten würden und die offene Ankündigung von Joe Biden über das Aus von Nord Stream 2 bei einer Invasion, zieht das Argument der „strategische Undeutlichkeit“ aber nicht mehr. Putin weiß schon längst, was ihm an Sanktionen droht.
Theorie 2: Olaf Scholz will sich eine Hintertür offen halten
Die USA haben bei Sanktionen gegen Putin weitaus weniger zu verlieren als die Bundesrepublik. Die EU und insbesondere Deutschland sind abhängig vom russischen Gas. Vor dem Ukraine-Konflikt bezog Deutschland rund 55 Prozent der Gas-Lieferungen aus Russland. Die Alternative wäre der Import von Flüssiggas aus den USA, das über Frackingmethoden gewonnen wird.
Kommt es zu Sanktionen gegen Putin und sogar zu einem Stopp der Gaslieferungen, dann würden die Energiepreise in Deutschland weiter in die Höhe schießen. Die Verbraucher müssten die Zeche zahlen. Das will Olaf Scholz verhindern.
+++ Gas-Dilemma: Deutschland wird zum Spielball im Ukraine-Konflikt – die Zeche zahlen die Verbraucher +++
Würde Scholz vor diesem Hintergrund tatsächlich den Verbündeten in den Rücken fallen und Nord Stream 2 nicht stoppen? Dadurch, dass er darüber nicht öffentlich spricht, könnte er sich diese Hintertür offen halten. Dagegen spricht jedoch, dass das ein Affront wäre gegen die westlichen Partner und einen enormen Ansehensverlust Deutschlands bedeuten würde. Zudem betont Scholz immer wieder, dass man mit den Partnern einvernehmlich vorgehen werde.
Theorie 3: Olaf Scholz ist zu stur, sich zu korrigieren
Hat sich Olaf Scholz in eine „rhetorische Sackgasse“ manövriert, wie im Podcast „Der Tag“ vom Deutschlandfunk spekuliert wurde.
Falls dieser Erklärungsansatz zutreffen würde, wäre Scholz schlicht nicht bereit, seinen ursprünglichen Irrweg, Nord Stream 2 außen vor lassen zu wollen, zu korrigieren. Der Kanzler hätte sich also verrannt und würde nun nicht mehr aus der Nummer rauskommen.
Theorie 4: Olaf Scholz fehlt in der Russland-Politik die Rückendeckung in der SPD
Möglicherweise gibt es in der Kanzlerpartei SPD keine Einigkeit über die Frage von Nord Stream 2. Schließlich ist das Projekt ein Erbe der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder und steht in der Tradition der Entspannungspolitik von Willy Brandt im Kalten Krieg, also einer Annäherung hin zu Russland. Unter anderem SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sieht sich dieser friedenspolitischen Ostpolitik verpflichtet.
Zudem ist das Projekt auch für Manuela Schwesig, der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern und möglichen kommenden SPD-Kanzlerkandidatin, wirtschaftspolitisch bedeutsam, denn die Pipeline endet in ihrem Bundesland.
Jedoch hatte die SPD-Führung in einer Klausur erst im Januar den Kurs in Hinblick auf Russland abgestimmt. Angesichts des aggressiven Vorgehens der russischen Regierung scheinen Putin-Versteher wie der ehemalige SPD-Chef Matthias Platzeck innerparteilich in der Minderheit. Zuletzt rechnete auch die ehemalige Juso-Chefin Jessica Rosenthal mit Gerhard Schröder ab, den sie einen „Interessenvertreter Russlands“ nannte.
+++ Ukraine und Russland kurz erklärt: Warum gibt es den Konflikt überhaupt? +++
Theorie 5: Olaf Scholz will es Wladimir Putin persönlich sagen
Am 15. Februar reist Olaf Scholz nach Moskau, um mit Wladimir Putin persönlich über den Ukraine-Konflikt zu sprechen. Will der Kanzler erst bei diesem Termin Klarheit schaffen und dem russischen Präsidenten direkt ins Gesicht sagen, dass er sogar bereit ist, Nord Stream 2 zu beerdigen.
Möglicherweise will Scholz auch eine weitere (rhetorische) Eskalation bis dahin unterbinden, den Ball also bei öffentlichen Statements möglichst flach halten.
Allerdings dürfte Putin eine Nord-Stream-2-Androhung nicht mehr überraschen und Scholz hätte auch längst die Gelegenheit gehabt, ihm dies telefonisch oder per Videocall zu sagen. Theoretisch hätte auch Annalena Baerbock bei ihrem Moskau-Besuch im Januar diese Botschaft stellvertretend für Scholz an ihren Amtskollegen Sergej Lawrow übermitteln können.
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Theorie 6: Deutschland will hohe Entschädigungszahlungen vermeiden
Spielen rechtliche Gründe eine Rolle? Dass dadurch das Verhalten von Olaf Scholz zu erklären ist, zweifelt jedoch Jurist und Politikwissenschaftler Jörg Himmelreich gegenüber dem „Spiegel“ an. Natürlich hätte Deutschland bei einem Aus von Nord Stream 2 hohe Schadensersatzforderungen zu befürchten, ähnlich wie beim zweiten Atomausstieg unter Angela Merkel 2011, räumt er ein. Jedoch meint Himmelreich: „Diese Forderungen wiegen aber niemals so schwer wie der Verlust europäischer Souveränität durch die Inbetriebnahme der Pipeline“.
Im Podcast „Handelsblatt Morning Briefing“ geht Redakteur Christian Rickens noch einen Schritt weiter. Er spekuliert darüber, dass die Bundesregierung hohe Schadensersatzforderungen der Betreibergesellschaft mit einem Coup vermeiden wolle. „Wenn die USA mit ihren Sanktionen das Pipeline-Aus erzwingen, wäre Deutschland womöglich aus dem Schneider“, so Rickens.
Tatsächlich sagte Joe Biden wörtlich auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Olaf Scholz, im Fall einer russischen Invasion der Ukraine „wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.“
Wer ist „wir“? Es geht schließlich um ein deutsches und europäisches Zertifizierungsverfahren, also ein behördliches Genehmigungsverfahren, bei dem die USA keine Rolle spielt. Wird das Ganze somit ein Fall für die Juristen?