Der Parteitag der Grünen in Bonn ist zu Ende. Ob es ein besonderer Parteitag und welche Bedeutung ihm zukommt, beantwortet Politikwissenschaftler Hubert Kleinert. Kleinert ist Gründungsmitglied der Grünen, war hessischer Landesvorsitzender der Partei und gehörte von 1983 bis 1990 mit einer Unterbrechung dem Bundestag an.
Er ist nach wie vor Mitglied bei den Grünen, allerdings nicht mehr aktiv. Heute lehrt er als Professor an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen.
Parteitag: Einschätzungen eines Experten zu den Grünen
Herr Professor Kleinert, der Parteitag der Grünen ist vorbei. Ist es ein außergewöhnlicher, ein besonderer Parteitag gewesen?
Ganz ohne Frage. Die Situation auf der Welt ist eine ganz außergewöhnliche und weil sie die Grünen gerade mit ihrer Programmatik vor ganz große Herausforderungen stellt. Es sind auch verschiedene Vergleiche angestellt worden mit dem Bielefelder Parteitag von 1999, als es um den Kosovokrieg und die deutsche Beteiligung ging. Wenn man nüchtern auf die Welt von heute guckt, dann wird man feststellen, die Herausforderungen, vor denen die Grünen heute stehen, sind noch größer und noch schwieriger. Jetzt geht’s noch um viel mehr, es geht um Krieg und Frieden, die Gefahr von Eskalation in Europa, es geht um die Grundfragen von Demokratie und Autoritarismus und es geht um die Grundlagen unserer Energiesicherheit. Das sind gewaltige Herausforderungen, vor denen die Grünen stehen und bis jetzt noch nie standen.
Die Grünen sind für Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie verlängern AKW-Laufzeiten. Umweltministerin Steffi Lemke nennt das eine „Zumutung“. Wie grün sind die Grünen in Regierungsverantwortung noch?
Den Begriff „Zumutung“ kann ich nachvollziehen. Die Zumutung geht von der Realität aus und die Realität sorgt dafür, dass das billige Gas nicht mehr zur Verfügung steht. Das ist immer die Voraussetzung für die grünen Ausstiegspläne aus der Atomenergie und gleichzeitig der Kohle gewesen. Das stellt die Grünen vor ganz neue Fragen. Und für den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gilt das erst recht – dem kann man mit Pazifismus nicht beikommen. Das hat die Partei ja offensichtlich auch in ihrer Breite gut verstanden.
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Habeck und andere Spitzenpolitiker betonen, dass sie stolz auf die Entwicklung der Grünen sind. Hat er Grund dazu, stolz zu sein?
Was die Außenpolitik betrifft, ist es den Grünen gelungen, mit großer Geschlossenheit diese Linie der Unterstützung der Ukraine auch mit militärischen Mitteln durchzuhalten. Dass das so breit und unumstritten getragen wird, haben die wenigsten erwartet – von daher hat er durchaus Grund für einen gewissen Stolz. In den großen Fragen, die vor allem sein Ressort betreffen, sind die Dinge natürlich schwieriger. Die Frage wie die Energiekrise zu handeln ist, wie man über den Winter kommt, das sind viele Detail-Fragen, die vor allem vor seiner Tür abgeladen werden. Ich weiß nicht, ob die Grünen mit ihrer Position „Streckbetrieb ja, aber maximal bis zum 15. April“ in der Realität bestehen werden. Es wird sich zeigen, ob die Linie im nächsten Frühjahr hält, und es wird sich in den nächsten Wochen zeigen, wie die Koalition zu der Frage zu einem Konsens kommt. Wenn ich mir die FDP anschaue, sieht das ja aktuell nicht so gut aus
„Fridays for Future“ demonstrierte vor dem Parteitag. Luisa Neubauer hat in ihrer Rede der Partei die Leviten gelesen. Entfremden sich Klimastreik-Bewegung und Grüne?
Ich weiß nicht, ob die jemals gekuschelt haben. Eine Bewegung wie „Fridays for Future“ und eine Partei wie die Grünen, die auf Machterwerb aus ist und auch das parlamentarische Kompromissbildungsspiel mitmacht, können nicht immer auf einer Linie sein. Es war klar, dass es zu Konflikten mit Umweltaktivisten kommen wird, denen die Fortschritte in der Klimapolitik nicht ausreichen, wenn die Grünen Regierungsverantwortung übernehmen. Das Hereinbrechen einer schrecklichen Wirklichkeit wie der Ukraine-Krieg, könnte die Grünen eher vor solchen Attacken verschont haben.
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Die Grünen proklamieren, weiterhin Friedenspartei zu bleiben. Trotzdem ist die breite Mehrheit plötzlich für massive Waffenlieferungen an die Ukraine. Hat der traditionelle Pazifismus der Partei noch eine Zukunft?
Eine Position des absoluten Pazifismus, der unter allen Umständen, unter allen denkbaren Konstellationen die Anwendung von Gewaltmitteln ausschließt, war schon immer nicht unumstritten. Unter den derzeitigen Bedingungen hat die Breite der Partei gelernt, dass es bei dem Thema Menschenrechte und bei der Verteidigung der Souveränität eines Landes gegen einen auswärtigen Aggressor keinen anderen Ausweg gibt als die Angegriffenen mit allen vertretbaren Mitteln zu unterstützen. Das ist eine gewisse Veränderung der Grünen, aber eine Veränderung hin zum Realismus. Und das kann man eigentlich nur begrüßen.
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