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Rechtsextremismus bei EM: Fußball als „Kampf für die eigene Identität“

Im Interview gibt Ruben Gerczikow einen Einblick in die Schattenseiten der EM. Nationalistische Bestrebungen seien fast schon folgerichtig.

Bei der EM kommt es immer wieder zu rechtsextremen und nationalistischen Ausschreitungen.
© IMAGO/AFLOSPORT

Extremismus-Experte im Interview: "Es gibt keinen unpolitischen Fußball"

Die EM ist in vollem Gange und auf den Tribünen geht es nicht immer friedlich zu. Autor Ruben Gerczikow erklärt im Interview, wieso politische Konflikte immer wieder in die Stadien getragen werden.

Die Euphorie, welche die EM bereits jetzt entfacht hat, ist gewaltig. Die europäischen Fans präsentieren sich als eine gut gelaunte, gemeinsam feiernde Einheit – zumindest meistens. Denn auf den Rängen kommt es auch immer wieder zu Skandalen, „Fans“ missbrauchen die Bühne, um ihre radikale und populistische Meinung an den Mann zu bringen.

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Jüngst passiert beispielsweise beim Spiel der Österreicher gegen Polen. Im Ösi-Block zogen Unbekannte ein Banner mit der Aufschrift „Defend Europe“ hoch, dem Schlachtruf rechtsextremer Aktivisten. Das solche Szenarien bei einer EM vorkommen, sei nicht verwunderlich. Das meint Publizist Ruben Gerczikow, der sich auf die Themenfelder Rechtsextremismus und Populismus im Fußball fokussiert hat. Im Interview mit unserer Redaktion verrät er, warum Politik in Stadien dennoch wichtig ist.

EM: Skandale sind Sinnbild des nationalen Patriotismus

Direkt zu Beginn des Interviews betont Gerczikow, dass sich die EM trotz seiner Eklats als gemeinsamer Anker in einer Zeit der gesellschaftlichen Entzweiung entpuppe. „Die EM-Stimmung ist tatsächlich sehr ausgelassen. Zu Beginn hieß es, dass die EM dazu da sein wird, die Sorgen der verschiedenen Krisen, die wir zurzeit haben, zumindest kurzzeitig zu vergessen. Und so ist es auch“, sagt er.

Die viel beschriebenen Skandale seien natürlich frustrierend, überraschen den 27-Jährigen aber kaum. Mit Ansetzung des Turniers hätte man sich bereits auf die Verkörperung rechtsextremer und nationalistischer Botschaften einstellen können.

„Nationalmannschaften sind dafür prädestiniert, dass sich Fans unterschiedlicher Nationen miteinander messen. Den Stellenwert der eigenen Nation nach oben zu schrauben, das ist ja auch der Kern der Nationalmannschaften. Das kann sehr leicht in eine nationalistische Richtung umschlagen, sodass das völkerverbindende Element einer EM missbraucht wird.“

Ruben Gerczikow, Publizist, im Interview mit unserer Redaktion

Besondere Brisanz gebe es dann, wenn Länder gegeneinander spielen, die historisch bedingt ohnehin im Streit liegen. So zum Beispiel, wenn Länder des ehemaligen Jugoslawien aufeinandertreffen, die einem jahrelangen Bürgerkrieg ausgesetzt waren. „In Ländern des ehemaligen Jugoslawiens und generell auf dem Balkan hat Fußball noch einmal mehr ein national stiftendes Momentum. Beispielsweise ist der kroatische Fußball stark mit dem Wunsch nach politischer Unabhängigkeit verbunden. Hier dient der Fußball als Bühne für Nationalbestrebungen und für den Kampf für die eigene Identität.“


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Mit Blick auf das Ausleben von Nationalismus und Rechtsextremismus bezeichnet er die EM-Stadien als „optimalen Nährboden“. Das „kollektive Wir-Gefühl“, welches die Kurve auszeichnet, sei ein ausschlaggebender Charakterzug radikaler Gruppierungen. Gleiches gelte für „gemeinsame Feindbildkonstruktionen“. „Von daher ist es nicht verwunderlich, dass die Übergänge zwischen Fußballszenen und organisiertem Rechtsextremismus teilweise fließend sind.“

Stadien sind ein Raum der Kommunikation

Gerczikow nimmt hier vor allem die UEFA als Ausrichter der EM in die Pflicht. Sie müsse die Äußerung von verbotenen Parolen nicht nur unterbinden, sondern auch ausreichend ahnden. Sie plädiere stets dafür, dass der Fußball für alle da sei. Im Umkehrschluss müsse man sich dann hinterfragen, wie die UEFA diese Zielsetzung vertreten könne, „wenn es im Stadion zu diskriminierenden Vorfällen kommt“.

„Die Verantwortlichen müssen aktiv gegen diskriminierende Banner oder nationalistische Symbole vorgehen und gleichzeitig auch präventive Schulungen anbieten. Meiner Meinung nach versucht die UEFA diese Vorfälle abzumildern, weil sie das Image des friedvollen Fußballfestes und eines Festes der Völkerverständigung natürlich stören. Die Fälle werden im Sinne der UEFA zwar verfolgt, aber die Verurteilungen werden sehr diskret behandelt und geraten nicht beziehungsweise nur sehr abgespeckt an die Öffentlichkeit.“

Ruben Gerczikow, Publizist, im Interview mit unserer Redaktion

Die Forderung, sportliche Turniere nicht zu politisieren, ist für ihn Nonsens. Er vertritt sogar die gegenteilige Auffassung und ist Befürworter von Politik im Stadion. „Es gibt keinen unpolitischen Fußball. Der Fußball ist eine Plattform für verschiedene Menschen und das Stadion ist eine Kommunikationsmöglichkeit, auch um sich für politische Belange einzusetzen. Von der Lokalpolitik bis hin zur Bundespolitik“.

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Zudem dürfe man nicht nur die Schreckensszenarien zeichnen. Der Fußball und seine Fans würden sich in großen Teilen für ein toleranteres Gesellschaftsbild einsetzen. „Es sind vor allem die organisierten Fanszenen, die den rechten Fans etwas entgegensetzen. Da spricht man vom Selbstreinigungsprozess der Kurve. Im Vergleich zu den 90er Jahren gibt es in deutschen Stadion beispielsweise deutlich weniger Rechtsextremismus, weil sich Fanprojekte und auch Ultragruppierungen aktiv dagegen einsetzen. Diese politische Bedeutung sollte nicht vernachlässigt werden.“