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Aufräumen nach dem Super-Gau in Tschernobyl

Aufräumen nach dem Super-Gau in Tschernobyl

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Vor 25 Jahren erlebte der Kraftwerksingenieur Mikola Isajew die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Seine Aufgabe damals: Aufräumen nach dem Super-GAU, so wie es nun in Fukushima geschieht.

Tschernobyl. 

55 ist Mikola Isajew heute – und immer noch stolz auf seine Orden. Rechts am Revers seiner braunen Uniformjacke baumelt es, das Abzeichen der Liquidatoren. Trägt er es, darf er nach vorne rücken, wenn er an der Sparkasse in der Schlange steht. „Ich bin stolz, zu diesem Kreis von Menschen zu gehören, die geholfen haben.“

25 Jahre ist es nun her, dass Isajew als junger Kraftwerksingenieur mithalf, die Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl einzudämmen. Nach der Unglücksnacht zum 26. April 1986, als ein Experiment misslang und der Reaktor 4 des Wladimir-Iljitsch-Lenin-Kraftwerks außer Kontrolle geriet, stand er an vorderster Front. Seine Aufgabe: Aufräumen nach dem Super-GAU, so wie es nun in Fukushima geschieht.

„Eine gute Arbeitsstelle“

Als das Undenkbare eintritt, hat es das Leben gut gemeint mit Mikola Isajew. Mit seinen 30 Jahren ist er bereits Chefoperator im Kraftwerk. Er verdient 276 Rubel im Monat, damals das Doppelte des Durchschnittslohns in der Sowjetunion. Männer wie er erhalten eine Sonderverpflegung, haben mehr Urlaub und dürfen in einer schicken Wohnung in Pripjat leben, dieser stolzen Ingenieurs-Stadt, die neben dem Kraftwerk gebaut wurde. „Es war eine gute Arbeitsstelle“, sagt Isajew.

Bis sie in die Luft fliegt. Ahnungslos wie alle Kollegen ist er, als er um sechs Uhr morgens ins Kraftwerk kommt. „Als wir die Maschinenhalle erreichten, sahen wir, dass der vierte Block kein Dach mehr hatte. Doch man sagte uns, dass keine Gefahr bestehe. Nach einer Explosion seien lediglich Dachplatten abgefallen, wir sollten weiter arbeiten.“ Doch Isajew glaubt den Worten seiner Vorgesetzten nicht. Um 7.45 Uhr, als die Schicht übernimmt, muss sich der Schichtleiter der Unglücksnacht plötzlich erbrechen. „Ich ahnte, dass er radioaktiv verstrahlt war“, sagt Isajew. Er handelt: „Wir haben Jodtropfen in ein Glas Wasser geschüttet und getrunken. So haben wir unsere Schilddrüsen geschützt.“

Der Reaktor brennt

Abends um 18.30 Uhr kehrt er nach Pripjat zurück. Der Reaktor brennt, die Stadt ist ahnungslos. „Es war ein warmer Frühsommertag. Die Menschen saßen draußen vor ihren Häusern. Auf den Straßen fuhren LKW, die mit Waschpulver den Asphalt wuschen. Hinter den Wagen liefen die Kinder barfuß durch das Wasser“, erinnert sich Isajew. Dann fahren gepanzerte Wagen in die Stadt. Männer in Strahlenschutzanzügen und Gummistiefeln steigen aus.

Isajew ahnt es. „Ich habe meiner Frau gesagt, dass sie die Kinder auf die Seite der Wohnung bringen soll, die vom Reaktor abgewandt ist. Sie soll Fenster und Türen dicht verschließen. Und ich habe ihr gesagt, dass sie packen soll.“ Doch die Anweisung zur Evakuierung kommt nicht. „Die ganze Nacht hindurch sahen wir vom Fenster aus, dass der Reaktor qualmte. Ab und zu kam eine Stichflamme heraus. Es war wie bei einem Vulkanausbruch.“

1900 Busse evakuieren die Stadt

Das ganze Ausmaß der Katastrophe erkennt Isajew am folgenden Tag, als der Werksbus vor dem Reaktor hält: „Er sah aus, wie ein Koffer, der plötzlich aufgeklappt ist und seinen Inhalt verloren hat. Ich habe gedacht: Jetzt ist es aus. Wir werden sterben.“

In Pripjat fahren 1900 Busse vor und evakuieren die Stadt – auch Isajews Frau Nadescha und seine Kinder Elena (4) und und Sergej (vier Monate). Isajew wird sie erst Monate später wiedersehen.

600 000 junge Soldaten aus allen Sowjetrepubliken werden als Liquidatoren überwiegend zwangsrekrutiert. Isajew zeigt vielen von ihnen den Weg zum Dach, wo sie die Reste der Brennstäbe beseitigen sollten. „Sie sind alle gestorben“, sagt Isajew.

„Denkt Euer Leben lang daran“

Mikolai Isajew lebt, als einziger seiner Schicht. An Hepatitis, Erkrankungen der Gallenblase und der Harnwege leidet er – wie seine gesamte Familie. 55 ist Isajew. Im Schnitt werden Liquidatoren nur 52,5 Jahre alt.

Jedem seiner Kinder hat er aus Pripjat ein Fotoalbum gerettet. „Ich habe sie ihnen geben und ihnen gesagt: Kinder, dort wurdet ihr geboren. Denkt Euer Leben lang daran, welche Katastrophe hier passiert ist.“