„Urban Explorer“ zeigen verlassene Bunker und Ruinen
Chris aus Essen und sein Kumpel Sascha aus Mülheim sind „Urban Explorer“: Hobbyfotografen, die in ihrer Freizeit geheimnisvolle Orte erkunden – stillgelegte Zechen und alte Weltkriegsbunker, verlassene Fabriken und Bauernhöfe im Dornröschenschlaf. Ihre Devise: Nichts mitnehmen – nur Bilder.
Essen.
Glassplitter knirschen unter den dicken Sohlen ihrer Schuhe. Durch die riesigen Löcher im Dach dieser verfallenen Industriehalle schüttet es heftig rein, bis aus der Pfütze ein kleiner See wird. In dieser gottverlassenen Ruine sind Chris (38) aus Essen und Sascha (23) aus Mülheim ganz in ihrem Element. Das Duo – Großhandelskaufmann der eine, Dachdeckermeister der andere – führt ein aufregendes Doppelleben. Wenn sie den Rechner ausgeschaltet und die Dachpfanne aus der Hand gelegt haben, schlüpfen sie in ihre zweite Haut. „Dann sind wir Urbexer“, sagen sie stolz. Zwei Besessene, die am Wochenende, im Urlaub, ja, manchmal in jeder freien Minute auf Achse sind: in einer Mission gegen die Vergänglichkeit.
Urbexer? So nennen sich die „Urban Explorers“: Stadterforscher, die der Hauch des Geheimnisvollen und Abenteuerlichen umweht. Weil sie mit ihren Kameras verlassene Orte auskundschaften, die für Normalsterbliche so unerreichbar bleiben wie der Südpol. Chris holt Luft und hebt an: „Ich war schon überall: in verlassenen Zechen und Fabriken, in stillgelegten Bunkern und Tunneln, in Villen und Bauernhöfen.“
Gimli“ und „Modorok“ erkunden „rotten places“
„Unterwelt“ im Internet
„Urban Explorer“ tauschen die Ergebnisse ihrer Erkundungen bevorzugt in Internet-Foren aus.
Bildergalerien von Chris und Sascha: toteorte.jimdo.com und dark-arts-photography.com.
Ihre Bilder verstehen die „Urbexer“ – wie Archivare – als Dokumente der Vergänglichkeit. Die Polizei erklärt, dass unbefugtes Betreten als Hausfriedensbruch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte.
„Urban Exploring“ – das bedeutet Eintauchen in atemberaubende Orte, in denen ein leiser, aber erbarmungsloser Kampf tobt: der zwischen der Natur und dem, was Menschenhand sich früher mal untertan gemacht hat. Vor sich hin vegetieren – das ist an diesen „rotten places“, verrottenden Plätzen, buchstäblich zu verstehen. Denn mit den Jahren überzieht in diesen Ruinen feines Moos alten Beton und selbst aus faulenden Holzböden schlagen irgendwann Birken kräftig Wurzeln.
In diese märchenhaften „Dornröschen“-Kosmos passen die Fantasy-Namen unserer beiden Helden. Chris nennt sich „Gimli“, so wie ein Kampf-Gnom aus Tolkiens Fantasy-Epos „Herr der Ringe“. Sascha ist als „Modorok“ unterwegs, ein keltisch-germanischer Sagen-Krieger.
Dass sie mit einem Bein meistens in der Illegalität stehen, ist den beiden „Urbexern“ sehr wohl bewusst. Denn wo „Betreten Verboten“-Schilder sie abschrecken sollen, schlüpfen sie durchs enge Loch im Maschendrahtzaun. Juristisch gesehen ist der Fall klar: Sie begehen Hausfriedensbruch. Auch Diebstahl? „Um Gottes Willen“, schütteln sie den Kopf, und stellen klar: „Wir brechen nichts auf, wir zerstören und klauen nix.“ Denn so will es der strenge Ehrenkodex dieser Untergrund-Szene: Hinterlasse nichts außer Fußspuren und nimm nichts mit außer Bilder!
Richter ließ „Urbexer“ Sascha laufen
Dem Heer von Sicherheitsleuten, das im Revier über Zigtausend Hektar verwaistes Industrieland und unzählige Montan-Ruinen wacht, sind „Urbexer“ ein Dorn im Auge. Einmal, in den Brandt-Werken in Hagen, rennt Sascha ins volle Security-Programm aus Werkschutz, Polizei und Hundestaffel. Und steht später vor Gericht. „Aber als der Richter meine Bilder sah, lächelte er nur und ließ mich laufen.“
Mit Helm und Medipack
Essen und das Ruhrgebiet sind das Dorado der „Urban Explorer“-Szene. Nur 150 bis 200 Leute im Revier betreiben dieses seltene Hobby ernsthaft. „Im Ruhrgebiet haben wir praktisch alles durch“, sagt Chris. Gute Tipps werden in der Szene wie Nuggets gehandelt. Damit verlassene Orte so lange wie möglich geheim bleiben, geben „Urbexer“ ihnen gerne fantasievolle Tarnnamen. So heißt die verlassene Zahnarztpraxis „Doktor Dent“, auch das „Witwenhaus“, die „Villa Rosengarten“ und der „Honigbunker“ sind ein Begriff.
„Wir gehen nie allein los, sondern meistens zu dritt oder zu viert“, sagt Sascha. Die Standard-Utensilien eines „Urbexers“ bestehen neben der Kamera aus Bauhelm, Handschuhen, warmer Kleidung, festem Schuhwerk, Proviant, Taschenlampe und Teelichtern zum besseren Ausleuchten. Chris: „Neuerdings nehme ich auch ein Medipack mit.“
In letzter Zeit ist das Essen-Mülheimer Duo in Nato-Kasernen im Rheinland unterwegs oder in belgischen Herrschaftshäusern – allesamt Ruinen. Auf Chris’ Festplatte schlummern 3000 bis 4000 Bilder – darunter schon viele Raritäten. Ihre Wunschziele? „Detroit“, sagt Chris spontan. Und Sascha: „Ein Trip in die ukrainische Geisterstadt Prypjat nahe Tschernobyl.“
Gefahren lauern in den verlassenen Orten zuhauf. Denn hinter der tausendfach fotografierten „Ästhetik des Verfalls“ verbergen sich morsche Bohlen und rostende Stahlträger, zerborstene Scheiben und einsturzgefährdete Betondecken. „Urbexer müssen viel laufen, viel klettern und am Ende hast du wunde Füße“, berichtet Sascha. Er und sein Kumpel Sascha sind erdige Typen, die in dieser Grauzone jedes Risiko sorgfältig abwägen. Und trotzdem den „Kick“ und den „Adrenalinstoß“ suchen. Mal durchwaten sie in Anglerhosen hüfthoch geflutete Keller, mal robben sie großer Tiefe schwitzend durch einen Tunnel, den die Szene „Todestunnel“ nennt.
Richtig gespenstisch wird’s in Ruinen und Untergrund, wenn „Urbexer“ auf „Schrottis“ treffen: auf Schrottdiebe, die bandenmäßig Stahl und kostbares Kupfer aus den Ruinen schleppen. „Die Schrottis“, sagt Chris, „die sind unsere Feinde, manchmal gehen sie sogar mit der Axt auf einen los.“