Duisburg.
„Ihr Kind wird nicht lebensfähig sein“ – es gibt wohl keinen anderen Satz, der einem so das Blut in den Adern gefrieren lässt. Doch jeden Tag in Deutschland wird er zur bitteren Realität. Sternenkinder werden die Jungen und Mädchen genannt, die nie in den Kindergarten gehen werden, welche ihre Eltern nie aufwachsen sehen werden.
In Duisburg setzten sich jeden Monat Betroffene zusammen, die diesen Verlust erleben musste. Es sind Mütter, Väter, Partner, die über ihre Trauer sprechen. Und über das Weitermachen.
Duisburg: Selbsthilfegruppe widmet sich Tabuthema
Am zweiten Advent brannten in Duisburg und anderen Städten Kerzen in den Fenstern. Ein Licht, das um die Welt ging. Es ist der weltweite Gedenktag für verstorbene Kinder. Doch wenn am Ende der Nacht die Kerze ausbrennt, bleibt die Trauer. Über sie zu reden, ist nicht einfach, aber notwendig.
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Seit 2017 gibt es die Selbsthilfegruppe Sternenkinder Duisburg. Der Begriff Sternenkinder lässt sich auf die Idee zurückführen, dass die Kinder den Himmel erreicht haben, bevor sie das Licht der Welt erblickt haben.
Leiterin Steffi Curuvija verlor ihren Sohn 2013. Sie hat Psychologie studiert, arbeitet heute als Lehrerin. Doch der Verlust ihres Sohnes stellt auch sie vor eine große Leere.
Danach wollte sie wieder schwanger werden. So geht es vielen Müttern von Sternenkindern. 2016 kam ihr Sohn Elias zur Welt. Als er acht Monate alt war, gründete sie die Gruppe. Sie wollte einen Raum schaffen, um Erfahrungen im Umgang mit Trauer auszutauschen.
Versorgungssituation ist schlecht
Auch, weil es an Angeboten mangelt. Noch immer ist die Versorgungsdichte mangelhaft. Viele Anlaufstellen gibt es auch heute nicht. Die nächsten Städte sind Bochum und Wuppertal.
Dass die Familien mit ihrem Verlust so im Regen stehen gelassen werden, verwundert. Statistisch gesehen werden in Deutschland 2,4 von 1000 Kindern tot geboren. 2015 waren es nahezu 2800. Die Anzahl der Fehlgeburten liegt noch um ein Vielfaches höher. Bei einer Fehlgeburt endet die Schwangerschaft vor der 24. Woche, das Gewicht des Kindes liegt noch unter 500 Gramm.
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Gesamtzahlen zur Anzahl der Fehlgeburten in Deutschland gibt es nicht, da die meisten Frauen ambulant behandelt und statistisch nicht erfasst werden. Das Risiko einer Fehlgeburt wird auf 15 bis sogar 30 Prozent geschätzt. Die Begriffe Tot- und Fehlgeburt schrecken ab – auch deswegen sprechen Betroffene lieber von Sternenkindern.
Trotzdem sei an viele Konfliktberatungen keine Trauerbegleitung angeschlossen. Mütter würden nach der Diagnose allein nach Hause geschickt, Krankenhäuser entließen Paare, ohne ihnen eine Anlaufstelle mitzugeben. „Dann gibt es eine Versorgungslücke“, so Curuvija.
Trauer an Weihnachten
„Trauer ist in Deutschland immer noch ein Tabuthema. Da sind wir einfach rückständig. In unseren Nachbarländern wird viel offener mit Trauer umgegangen.“ Es sei ein Symptom des Totschweigens nach den Weltkriegen, so Curuvija.
In der Gruppe soll nichts verschwiegen werden. Gerade im Oktober, November und Dezember sei der Anlauf groß. Steffi Curuvija nennt sie die „traurigen Monate“.
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„Wie feiern wir Weihnachten? Wenn die Familie den Braten auf den Tisch stellt, aber nicht will, dass über das tote Kind berichtet wird. Nach so einem Verlust wird das erste Weihnachtsfest einfach anders gefeiert, das muss man akzeptieren.“
Die Arbeit ist anstrengend. Nicht nur emotional, auch zeitlich. Drei Stunden steckt sie jeden Tag in die Selbsthilfegruppe – neben ihrem Beruf. Sie sucht nach weiteren Leiterinnen: „Das kann so nicht weitergehen.“
Seit etwas mehr als einem Jahr kommt auch Kathrin mit ihrem Partner Oliver regelmäßig zu den Treffen. Im November 2018 verloren sie ihren Sohn Jano. Die Geschichte von Kathrin, Oliver und Jano findest du >>> hier.
Trauerverläufe sind individuell
Einen Königsweg der Trauer gebe es nicht. Rituale können jedoch helfen, auch um die Beziehung zwischen den Eltern zu retten. „Für viele Paare ist es eine sehr fragile Zeit“, sagt sie.
Wichtig sei es, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und auf darauf zu reagieren: „Trauernde haben eine unglaublich hohe Selbstkompetenz.“
„Jeder Mensch trauert anders“, weiß sie inzwischen. Auch zwischen Müttern und Vätern gebe es erhebliche Unterschiede, was die Verarbeitung von Trauer betreffe.
„Männer müssen etwas nebenher tun“
„Für Männer ist es sehr erschreckend, sich gegenseitig in die Augen zu schauen und über ihre Verluste zu reden“, meint Steffi Curuvija. Sie glaube, es wäre einfacher, wenn sie etwas unternehmen.
„Männer müssen etwas tun nebenher. Das heißt aber nicht, dass sie nicht über ihre Kinder reden möchten. Das tun sie sehr gerne. Väter werden kaum wahrgenommen und zu oft vergessen.“
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Den Müttern sehe man die Schwangerschaft mitunter noch an. Glückwünsche zur Schwangerschaft – „das verletzt natürlich. Sie können aber auch ihre Trauer einfacher nach außen tragen.“
Die Treffen finden jeden ersten Mittwoch im Monat von 19.30 bis 21 Uhr im Begegnungs- und Beratungszentrum der Caritas in Duisburg-Homberg statt. Wenn du selbst ein Sternenkind hast und an der Gruppe teilnehmen möchtest, kannst du dich bei Steffi Curuvija per Mail melden (st.curuvija@web.de).