Im Revier werden mehr Unternehmen neu angemeldet als im Landesschnitt. Problematisch bleibt jedoch die „Bodensperre“ der Montanindustrie.
Essen.
Das Ruhrgebiet ohne seine großen Konzerne – undenkbar. Doch zur Wirtschaftsgeschichte dieser Region gehört auch, dass um die Großen herum jahrzehntelang nichts wachsen durfte. Der nach wie vor unterentwickelte Mittelstand hat es nicht leicht gehabt im Revier der Riesen. Selbst, als die Montanindustrie ihren Höhepunkt längst überschritten hatte, blieb sie auf ihren riesigen, zusehends brach liegenden Flächen sitzen. Die legendäre „Bodensperre“ verhinderte die Ansiedlung neuer Industrien und wirkt nach Überzeugung regionaler Wirtschaftsforscher bis heute nach.
Der Nachholbedarf ist enorm, der Strukturwandel in vollem Gange. Während die Konzerne weiter Stellen abbauen, sind es die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die neue schaffen. Das größte Wachstum erfahren die Dienstleistungsberufe. Allein im Gesundheitswesen sind zwischen 2008 und 2013 mehr als 13.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden, im Sozialwesen inklusive der Seniorenheime 17.500. Auch der Einzelhandel baut trotz der Schwierigkeiten des angeschlagenen Warenhauskonzerns Karstadt unterm Strich kräftig Personal auf – 6500 Stellen kamen hinzu.
Selbstständigenquote verbessert
Das Ruhrgebiet holt auf, auch bei den Gründungen und Neuansiedlungen von Unternehmen. In Duisburg etwa sind 2013 überdurchschnittliche 171 Unternehmen je 10.000 Einwohner neu angemeldet worden, im Jahr davor 159. Dieser so genannte NUI-Index, den das Institut für Mittelstandsforschung in Bonn erhebt, liegt im Bundesschnitt bei 138, in NRW bei 133. Auch Essen (160) und selbst das in vielen Statistiken hinten liegende Gelsenkirchen (158) entwickeln sich in Sachen Unternehmensansiedlung besser als Bund und Land NRW. Doch zu jeder guten Nachricht gehört für das Ruhrgebiet der Hinweis, dass es aufholt, aber immer noch zurückliegt.
Das gilt auch für die Selbstständigenquote, die sich im Revier zuletzt verbessert hat, mit 9,1 Prozent aber nach wie vor deutlich unter dem NRW-Schnitt von 10,1 Prozent liegt. „Wir brauchen zudem mehr Menschen, die den Sprung in die Selbstständigkeit wagen“, sagt deshalb Klaus Engel, Evonik-Chef und Moderator des Initiativkreises Ruhr. Dieser hat mit der Landesregierung im vergangenen Jahr die Initiative „Gründerland NRW“ gestartet, um innovative Firmengründer zu unterstützen.
Mehr Gründer braucht das Revier
Dass sich ein Konzernchef für die Gründung und Ansiedlung neuer Unternehmen einsetzt, wäre vor 40 Jahren schwer denkbar gewesen. Seinerzeit sahen die Großunternehmen darin eine unerwünschte Konkurrenz um die Arbeitskräfte. Die Bodensperre verhinderte unter anderem eine stärkere Ansiedlung der Autoindustrie und damit auch ein größeres Wachstum mittelständischer Zuliefererbetriebe. Ford wollte ins Ruhrgebiet, war aber nicht willkommen. Opel, das sein Bochumer Werk Ende 2014 schloss, konnte nur auf ehemaligem Bergbaugelände angesiedelt werden, weil geheim gehalten wurde, wer da seine Zelte aufschlagen wollte. „Die alte Montanindustrie hat das Vorrücken neuer Wirtschaftszweige nicht gerade gefördert“, sagt Uwe Neumann vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen. Auch die engen Verflechtungen zwischen den Konzernen und der Kommunalpolitik hätten den Strukturwandel im Rückblick behindert.
Dieses Erbe lässt sich noch heute in Zahlen fassen. Die Zahl der kleinen und mittelständischen Unternehmen wächst in fast allen Revierstädten langsam, aber beständig, auf 1000 Einwohner kommen hier derzeit rund 36 Unternehmen, Ein-Mann-Betriebe ausgenommen. Zu 99 Prozent sind dies kleine und mittelgroße Unternehmen, nach EU-Definition zählen dazu alle Firmen mit weniger als 250 Beschäftigten. Wie viele Menschen sie in einer Stadt beschäftigen, gibt Aufschluss darüber, wie stark der Mittelstand im Vergleich zu den Konzernen mittlerweile geworden ist – und hier zeigen sich riesige Unterschiede. In Essen, der Stadt der Konzernzentralen, arbeiten nur 35 Prozent aller Beschäftigten in kleinen und mittelgroßen Firmen, der NRW-Schnitt liegt bei 52,5 Prozent. Auch in Herne (42,6 Prozent), Hagen (44,4 Prozent) und Duisburg (47,6 Prozent) hinkt der Mittelstand hinterher. In den Randbezirken dagegen ist der Mittelstand längst der dominierende Arbeitgeber, im Kreis Recklinghausen etwa stellt er gut 70 Prozent der Arbeitsplätze.
Je früher sich die Montanindustrie aus einer Stadt zurückgezogen hat, desto eher hat sich auch ein breiterer Mittelstand etabliert, so etwa in Bochum. Die von vielen Rückschlägen wie dem Weggang von Nokia und nun auch Opel geplagte Stadt hat weniger Arbeitslose als die großen Nachbarn Essen und Dortmund, weil der Mittelstand vieles auffängt. Mit 60 Prozent gibt er in Bochum überdurchschnittlich vielen Menschen eine Beschäftigung.