Lars Ricken war der gefeierte Held von Dortmund. Damals war der erst 18-jährige Youngster des BVB als Joker eine Geheimwaffe für seine Mannschaft. Dabei hatte er bis dahin kaum Tore nach Einwechslungen erzielt. In seinem Gastbeitrag packt Lars Ricken ein paar Anekdoten aus
Dortmund.
Ganz ehrlich: Was mir zu allererst einfällt, wenn ich an den Abend des La-Coruna-Spiels denke, ist meine damalige Freundin. Die interessierte sich gar nicht für Fußball und war folgerichtig auch nicht im Stadion. Ich kam also sehr spät nach Hause, war der gefeierte Held des Spiels, gerade 18 Jahre alt und emotional natürlich entsprechend aufgewühlt – und meine Freundin forderte mich recht bestimmt auf, doch bitte das Geschirr abzutrocknen, das sie gerade gespült hatte.
Ich merkte ganz vorsichtig an: „Du, wir hatten gerade ein Spiel – und ich würde mir das gerne noch einmal im Fernsehen anschauen.“ – „Ach, ja“, sagte sie, „ihr habt ja gespielt. Habt Ihr denn gewonnen. Schön! Aber wenn du gespielt hast, musst du’s doch nicht noch einmal sehen . . .“ – Kurzum: Ich habe dann ein paar Minuten heraushandeln können, aber dann musste ich tatsächlich abtrocknen. Und so bin ich seinerzeit von meiner Freundin noch am Abend des Triumphes sehr schnell wieder geerdet worden.
Über diese Anekdote hinaus verbinde ich sportlich betrachtet vor allem drei Dinge mit dem Spiel gegen La Coruna.
Erstens: Natürlich dieses Tor. Mein Treffer zum 3:1 in der 118. Minute, der uns völlig unerwartet doch noch in die nächste Runde brachte. Ich habe in meiner Zeit beim BVB ja das eine oder andere Tor erzielt, darunter auch manches wichtige – aber dieser Treffer ist, zusammen mit dem Heber zum 3:1 im Champions-League-Finale gegen Juventus Turin, sicherlich derjenige, der mir in der Rückschau am meisten bedeutet. Einfach deshalb, weil es ein wundervolles Gefühl ist, sich mit diesen Toren für alle Zeiten in der Vereinsgeschichte eines so großen und traditionsreichen Klubs wie Borussia Dortmund eingetragen zu haben. Allerdings: In ein Lehrbuch wird es dieses Tor sicherlich nicht schaffen. Die Position und die Schusstechnik waren schon einigermaßen problematisch; ich treffe den Ball weder mit der Innenseite noch mit dem Vollspann, aber ich wollte ihn tatsächlich genau so schießen, wie ich ihn dann geschossen habe. Anders wäre er nicht rein gegangen. Überhaupt war das so ein Ball, der von zehn Versuchen vermutlich neunmal irgendwo landet – nur nicht im Tor.
„Wenn der Ricken kommt, dann passiert noch was!“
Und noch etwas ist ganz interessant. Ich stand zu meiner aktiven Zeit immer in dem Ruf: „Wenn der Ricken kommt, dann passiert noch was!“ Dabei habe ich in all den Jahren als Profi fast überhaupt keine Joker-Tore gemacht, aber ausgerechnet in den beiden Spielen gegen La Coruna und Juve kam ich tatsächlich von der Bank.
Zweitens: Ich habe ja einige Zeit mit Julio Cesar zusammengespielt, und Julio war als Sportler wie als Mensch immer ein relativ ruhiger, sachlicher und abgeklärter Kerl. Aber wie selbst er nach meinem Tor zum 3:1 regelrecht ausgerastet ist und dann auch ganz schnell als Erster auf mir drauflag, zeigt, welch wahnsinnige Emotionen in diesem Moment freigesetzt wurden. Das ist eine sehr schöne Erinnerung, auch deshalb, weil Julio Cesar sicher eine der ganz großen Persönlichkeiten ist, die hier in Dortmund gespielt haben.
Drittens ist es absolut faszinierend, wie ein solches Tor dann 19 Jahre später noch einmal ins kollektive BVB-Gedächtnis zurückkehrt – am 9. April 2013 gegen Malaga. Genau das macht doch einen großen Verein aus, dass es solche verbindenden Erlebnisse und gemeinsamen Ankerpunkte gibt. Jedenfalls: Als Malaga wenige Minuten vor Schluss in Führung ging und wir plötzlich zwei Tore brauchten, leerten sich die Plätze um mich herum doch merklich. Von denen, die sitzen blieben und ausharrten, sagten aber einige: „Mensch, Lars, jetzt brauchen wir noch einmal so ein Wunder wie damals gegen La Coruna.“ – Unter uns: Ich würde mich wirklich nicht als Pessimist bezeichnen, aber geglaubt habe ich an eine Wende gegen Malaga nicht mehr.
Keine Hoffnung mehr
Ich war, wie die meisten anderen auch, so down, dass ich eigentlich keine Hoffnung mehr hatte. Erst im Nachhinein ist mir aufgegangen, was da nach dem 1:2 eigentlich passiert ist: Die Zuschauer sind noch einmal gekommen, Roman Weidenfeller stürmte mit einer Mischung aus Anfeuerung und Beschimpfung nach vorne, Jürgen Klopp verzog sich nicht etwa deprimiert auf die Trainerbank, sondern coachte weiter, als könne von einem drohenden Ausscheiden gar keine Rede sein. Diese Kette von Reaktionen war schon echt stark und ein Paradebeispiel für den Charakter dieses Teams und des Umfelds.
Gerade in solchen Momenten spielt unser Stadion immer wieder eine wichtige Rolle. Man merkt das schon an der Ehrfurcht der gegnerischen Teams, wenn sie den Rasen betreten und vor der gelben Wand stehen. Das flößt definitiv Respekt ein, und diese besondere Atmosphäre in Dortmund bringt dem BVB auch immer wieder den einen oder anderen Punkt. Für mich noch entscheidender und der große Unterschied zu vielen anderen Klubs ist aber, wie unsere Zuschauer sich verhalten, wenn es mal nicht so gut läuft. Wir haben diese Zeiten ja auch erlebt. Bei uns bleiben dann eben keine Blöcke aus Protest leer; unsere Fans drehen dem Spielgeschehen nicht den Rücken zu – sie sind auch und manchmal gerade dann für die Mannschaft da, geben Gas und versuchen zu helfen. Das ist wirklich einzigartig!