„Einer geht noch raus“ – Erinnerungen an den Rot-Rekord der Bundesliga bei BVB – Dresden
Vor 25 Jahren gab es beim Spiel BVB gegen Dresden fünf Platzverweise. Schiedsrichter Manfred Schmidt erinnert sich an den Abend und die Folgen.
Dortmund.
Das Publikum ist kreativ an diesem trüben Frühherbstabend im Revier. Das Stadion ist fast voll, um die Flutlichtmasten ist es ein wenig diesig und die Stimmung ist ausgelassen. Dazu trägt auch die 4:0-Führung der Heimmannschaft bei. Doch im Dortmunder Westfalenstadion singen viele der 39.000 Zuschauer zur Melodie des Karnevalsschlagers nicht: „Einer geht noch rein“, wie angesichts des Zwischenstandes zu erwarten, sondern: „Einer geht noch raus.“ Denn die Menge hat diesmal einen ganz außergewöhnlichen Wunsch: noch einen Platzverweis. Fünf hat sie bereits erlebt an diesem Septembertag vor 25 Jahren, zwei rote und drei gelb-rote Karten, Rekord in der Bundesliga bis heute. Es ist eine Atmosphäre wie in einem dieser skurrilen Monty Python-Filme – schräger britischer Humor in Perfektion.
Der Schiedsrichter hatte daran kein Vergnügen im und nach dem Spiel von Borussia Dortmund gegen Dynamo Dresden am 5. Spieltag der Saison 1993/94. „Das war schlimm“, erinnert sich Manfred Schmidt, heute 61 Jahre alt und Hotelier von Beruf, „wie die 30.000 gesungen haben, einer geht noch raus.“ Und es wird für ihn in den Tagen danach noch unangenehmer: Die Kampagne einer Boulevardzeitung setzt ihm zu und – so berichtet Schmidt: „Ich habe sogar Morddrohungen erhalten.“
Die Wogen glätten sich dann wieder. Manfred Schmidt kehrt in die Stadien zurück wird pfeift unter anderem noch 15 weitere Bundesligaspiele.
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Bei den beteiligten Spielern hat der Abend in Dortmund kaum bleibenden Eindruck hinterlassen. „Fünf Platzverweise?“ fragt Uwe Rösler, der damals für Dynamo Dresden spielte. „Wirklich?“ Er hat gerade noch im Kopf, dass es ein Abendspiel war und er eingewechselt wurde. Sein Kollege bei den Sachsen, Miroslav Stevic, stöhnt auch: „Puh, lange her.“ Von Platzverweisen weiß er nichts Konkretes mehr: „Wir haben in Istanbul mit Galatasaray mal ein Derby 6:0 gegen Fenerbahce gewonnen, von dem Spiel habe ich noch alles im Kopf.“ Auch Lothar Sippel, für die Borussia am Ball, räumt ein: „Ich weiß auf Anhieb nicht, wie viele Platzverweise es waren. Das müsste ich nachlesen.“
Es ist ein vogelwildes Spiel, in dem Stéphane Chapuisat dreimal trifft und außerdem Karlheinz Riedle. Reporter sitzen damals noch an der Außenlinie und haben guten Einblick auf viele Stichelleien und harten Einsatz. Matthias Sammer sieht für eine Attacke gelb, die heute härter geahndet werden würde, und für Meckern nach einer halben Stunde gelb-rot. Wenig später erwischt es Nils Schmäler von Dynamo, gleich nach der Pause Dortmunds Günter Kutowski – zweimal rot für das Verhindern klarer Torchancen. In der 55. Minute sieht Matthias Mauksch für eine rüde Attacke auf Ned Zelic gelb-rot und in der 70. Spielminute auch Markus Kranz, beide damals Dresdener.
Es ist eine Zeit, in der das Westfalenstadion noch wirklich so heißt und nicht den Namen einer Versicherung trägt, mit einer Kapazität von damals knapp 43.000 Zuschauern. Auch Monty-Python sind 1993 noch angesagt im Profifußball, in Hamburg singen die St. Pauli-Fans am Millerntor vor und während jeder Begegnung: „Always look on the bright side of life“, den Hit aus der Bibel-Persiflage „Leben des Brian“.
„Es ist vieles unglücklich zusammen gekommen“
„Es ist vieles unglücklich zusammen gekommen“, bilanziert Schiedsrichter Schmidt ein Vierteljahrhundert später. „Es waren ja keine groben Fouls, eher ziemlich blödsinnige Vorfälle. Ich hab damals ja nur drei gelbe Karten gezeigt und die drei bekamen auch gelb-rot.“ Das stimmt nicht ganz: mit Dresdens Detlef Schößler wird auch ein vierter Mann verwarnt ohne vom Platz zu fliegen. Als „faires Spiel“ ist die Begegnung Manfred Schmidt in Erinnerung, der damals seine vierte Bundesligabegegnung leitet. „Da hatte ich noch ein bisschen wenig Erfahrung und hätte einige anders machen sollen. Matthias Sammer z. B. hätte ich auch noch mal ermahnen können.“
Ob das wirklich geholfen hätte? Der Mittelfeldspieler ist so aufgebracht an diesem Abend, dass er mehrmals schimpfend Nase an Nase mit dem Unparteiischen steht und fast schon bettelt um den Platzverweis. „Ich war wohl etwas übermotiviert“, gibt er an diesem Abend zu Protokoll. In seinem früheren Klub in Dresden war kurz vorher Vater Klaus Sammer von einer Funktion in der worden.
Der DFB arbeitet da zu Beginn dieser 31. Bundesligasaison gerade an einem neuen Image für Schiedsrichter, hat ihnen grüne Trikots verpasst, nachdem vorher fast ein Jahrhundert lang schwarz die Farbe der Zunft war, und bringt neue Richtlinien in Umlauf, die härteres Durchgreifen fordern. Das befremdet an diesem Abend BVB-Trainer Ottmar Hitzfeld; er meint nach Spielende: „Ich habe große Bedenken für die nächsten internationalen Spiele, denn dort wird mit ganz anderer Elle gemessen.“ In den folgenden Monaten rudert der DFB in seinen Anweisungen an die Unparteiischen allerdings wieder zurück.
Der Dresdener Trainer Siegfried Held sagt nach Spielende: „Wenn die Sache nicht so ernst wäre, müsste man eigentlich lachen, denn das hatte eigentlich mit einem regulären Fußballspiel nichts zu tun.“ An diesem aufregenden Abend hat Manfred Schmidt noch nicht die Distanz zu der Sache wie heute. Er erklärt in die Kameras: „Das, was gemacht werden musste, habe ich entschieden. Ich habe nur reagiert, die Spieler haben agiert und ich habe auf das jeweilige Foulspiel dann reagiert.“
„Rot-Rambo“ und „Schmidtchen Schmeißer“
In einer Boulevardzeitung wird er „Rot-Rambo“ tituliert und als „Schmidtchen Schmeißer“ (nach einem damals gängigen Lied des Niederländers Nico Haak: „Schmidtchen Schleicher mit den elastischen Beinen“) verspottet und muss über sich lesen: „So einer macht den Fußball tot“. Schriftlich und telefonisch wird Schmidt bedroht und verlässt deshalb seine Heimatstadt Bad Hersfeld für ein paar Tage: „Ich habe mich erst einmal zwei Wochen völlig zurückgezogen.“
Zwei Tage nach dem Spiel hebt das Sportgericht des DFB die Roten Karten für die Notbremsen von Schmäler und Kutowski auf, übt aber keine Kritik an der Schiedsrichterleistung. In seinem privaten Umfeld erfährt Schmidt ist diesen Tagen Rückendeckung und die meisten Medien reagieren ebenfalls unaufgeregt. Der Kicker thematisiert in der nächsten Montagsausgabe die neuen Richtlinien an die Schiedsrichter unter der Schlagzeile „Die rote Gefahr!“ – durch die Regelverschärfungen hat es nach 52 Spielen bereits 21 Platzverweise gegeben.
Der Deutsche Fußball-Bund unterstützt den 36 Jahre alten Spielleiter nicht und verhält sich wie danach in vielen anderen Skandalen, bei der Affäre und Schiedsrichterboss Amerell, nach dem Selbstmordversuch des Schiedsrichters Rafati, bei den Schwierigkeiten um den Videobeweis oder auch bei den Bestechungsvorwürfen um die Sommermärchen-WM 2006. Er sitzt die Probleme aus.
„Der DFB hat sich etwas schofel verhalten“, findet Manfred Schmidt. „Stillhalten und durch. Mich als jungen Schiedsrichter hat nie jemand an die Seite genommen und das mal konstruktiv besprochen.“ Der Beobachtungsbogen des DFB, der sonst drei bis vier Tage später per Post zugeschickt wurde, brauchte mehr als drei Wochen und enthielt eine schlechte Bewertung. Die Platzverweise jedoch seien nicht kritisiert worden, dagegen zwei Abseitssituationen. „Ich hab damals Einspruch gegen die Bewertung eingelegt, über den aber nie entschieden wurde“, erzählt Schmidt. „Schirichef Amerell hat gesagt, ich solle stillhalten, mir würde nichts passieren. Den Bogen vergessen wir.“
Noch zwei Jahre wird Manfred Schmidt danach in der Bundesliga eingesetzt, anschließend in der 2. Liga. Nach einem Achillessehnenriss beim Freizeitfußball aber gibt er das Pfeifen ganz auf. Die Akzente in seinem Leben haben sich verschoben, durch die Familie mit drei Kindern und eine kleine Pension in Bad Hersfeld am Stadtpark, die er von seiner Mutter übernommen und mit dem Schwiegervater als Architekten zu einem Hotel ausgebaut hat.
Doch die Erinnerungen an die Zeit als Schiedsrichter möchte er allerdings nicht missen. „Zu der Zeit herrschten noch ganz andere Werte. Im Gespann haben wir mehr gemacht und manchmal auch die Frauen mitgenommen“, erzählt Schmidt. An ein Länderspiel in Neapel zwischen Italien und Frankreich denkt er besonders gerne zurück und an den Bundesligaaufstieg von Schalke 04 im Juni 1991. „Drei Stunden saßen wir wegen der Feiern nach dem Spiel gegen Fortuna Köln in der Schiedsrichterkabine des Parkstadions fest“, erinnert sich Manfred Schmidt. „Der Linienrichter von der Gegengeraden brauchte nach dem Schlusspfiff 45 Minuten, bis er überhaupt in der Kabine war.“ Auch das erste Spiel im Münchener Olympiastadion mit Matthäus, Scholl und Effenberg als Leistungsträger der FC Bayern Monate nach dem Skandalspiel von Dortmund ist ihm in angenehmer Erinnerung.
Die Münchener werden am Saisonende im Mai 1994 mit einem Punkt vor Kaiserslautern Deutscher Meister, Dortmund wird Vierter und Dresden hält souverän die Klasse. Das Publikum im September 93 dichtet im Westfalenstadion noch einen Schlager um. „Oh, wie ist das rot“, skandiert das Publikum, statt „wie ist das schön“, wie sonst üblich. Die meisten Zuschauer haben ihre Freude an diesem ausgewöhnlichen Abend. Wie singen Monty Python doch so richtig: „Always look on the bright side of life“.