Türkei-Wahl: Expertin erklärt, wie Deutsch-Türken ticken und warum sie wählen gehen
Am Sonntag werden in der Türkei Parlament und Präsident neu gewählt
Bis Dienstag durften auch die in Deutschland lebenden Türken wählen gehen
Expertin Nalan Sipar erklärt: So ticken die Deutsch-Türken – und das bewegt sie an die Urne
Essen.
Am heutigen Sonntag wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt, zeitgleich finden auch Präsidentschaftswahlen statt. Seit 2014 dürfen auch die im Ausland lebenden Türken wählen gehen – so zum Beispiel im türkischen Konsulat in Essen. Bis Dienstag konnten Auslandstürken dort ihre Stimmen abgeben.
Nalan Sipar (34) begleitet den Wahlkampf und das politische Geschehen in der Türkei intensiv. Die „Deutsche Welle“-Redakteurin und frühere Essenerin hat sich dabei besonders mit Deutsch-Türken beschäftigt. Im Interview mit DER WESTEN spricht sie darüber, was den Türken in Deutschland wichtig ist: Warum wählen sie, wen wählen sie und worum geht es ihnen?
DER WESTEN: Von den in Deutschland lebenden Türken erhielt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den letzten Wahlen großen Zuspruch – viel größer sogar als in der Türkei selbst. Woran liegt das?
Nalan Sipar: „Aus meinen Interviews mit Deutsch-Türken weiß ich, dass sie ihre Entscheidung hauptsächlich aufgrund von Emotionen treffen. Das ist aber wahrscheinlich bei allen Menschen so. Ich glaube, die wenigsten Menschen beschäftigen sich wirklich mit den Inhalten und Parteiprogrammen. Hauptsächlich werden solche Entscheidungen über Emotionen getroffen. Und das scheint bei den Deutsch-Türken auch der Fall zu sein.“
Welche Emotionen sind es, die die Türken in Deutschland an die Urne bewegen?
Sipar: „Ihnen ist es wichtig, dass Erdogan ihnen das Gefühl gibt, sich um ihre Probleme zu kümmern. Interessant fand ich bei meinen Gesprächen mit Ihnen, dass auf die Frage, für welche ihrer Probleme hier in Deutschland Erdogan eine Lösung finden sollte, niemand eine Antwort geben konnte. Aber viele berichten darüber, dass Erdogan Autobahnen und Krankenhäuser gebaut hat. Das habe es in den Dörfern, wo sie herkommen, nicht gegeben.“
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Welche Rolle spielt der Alltag in Deutschland bei der Wahlentscheidung?
Sipar: „Viele dieser Menschen fühlen sich von der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert. Und dann kommt einer, der Ihnen das Gefühl gibt, vollwertiger Bürger zu sein. Diese Wertschätzung spielt bei vielen Deutsch-Türken eine große Rolle.“
Der Kurdenkonflikt spielt im Wahlkampf eine große Rolle. Spürst du den Konflikt zwischen Kurden und Türken auch in Deutschland?
Sipar: „In meinem journalistischen Alltag spüre ich diesen Konflikt immer wieder. Jedes Mal, wenn wir auf der Straße Umfragen machen und mit Menschen sprechen, kommt er zu kleinen Streitigkeiten zwischen unseren Gesprächspartnern. Gerade eben erst habe ich Deutsch-Türken gefragt, welchen Präsidentschaftskandidaten sie unterstützen. Während eine Frau mit mir sprach, mischte sich ein Mann ein und kritisierte sie sofort für ihre Entscheidung. Die Stimmung ist aufgeheizt.“
Wie hast du dich mit den Wahlkampfthemen auseinandergesetzt?
Sipar: „Die Pressefreiheit ist in der Türkei sehr eingeschränkt. Objektive Informationen kann man eigentlich nur noch auf den sozialen Medien wie Twitter oder Facebook finden. Deswegen habe ich mich vorrangig über diese Kanäle informiert. Viele – meiner Meinung nach objektive – Journalisten haben in den vergangenen Jahren ihren Job verloren. Aber auf Twitter sind sie nach wie vor präsent. Sie sind meine erste Informationsquelle. Ich habe mich aber auch viel über deutsche Medien informiert. Als Journalistin war ich den vergangenen zwei Wochen in der Türkei, um dort etwas Wahlstimmung zu schnuppern.“
Was denkst du: Wie gehen die Wahlen aus?
Sipar: „Umfragen in der Türkei zeigen sehr knappe Ergebnisse. Es geht da um Unterschiede im Nachkomma-Bereich. Aber ich bin bei all den dargestellten Zahlen sehr vorsichtig, weil die Institutionen, die diese Zahlen liefern, selten unparteiisch sind. Meine Vermutung ist aber, dass die Wahlen sich nicht am Sonntag entscheiden werden, sondern es zu einer Stichwahl am 8. Juli kommt. Erst dann wird vermutlich feststehen, wer der nächste türkische Präsident wird.“
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Nalan Sipar ist geboren in der Türkei. Seit 2000 lebt sie in Deutschland. Sie studierte Politikwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Anschließend arbeitete sie zunächst beim WDR, wo sie auf WDR 5 mit „Kiraka“ (zu deutsch Schmetterling) die erste deutsch-türkische Kindersendung Deutschlands moderierte, die den Deutschen Radiopreis 2014 erhielt. Heute ist sie Redakteurin und Moderatorin bei „Deutschen Welle“.